Christian Putsch

Schweres Erbe

Christian Putsch
Schweres Erbe

Als der mächtigste Mann der Welt sein Mittagessen beendet hat, will er seinem Gastgeber, dem am meisten bewunderten Mann der Welt, für die köstliche Mahlzeit danken. Doch Nelson Mandela nimmt den Dank nicht an. "Ich habe nicht gekocht", sagt er lächelnd zu Bill Clinton, zieht ihn in die Küche, zur Urheberin des Werkes.

"Bedanke Dich bitte bei ihr", empfiehlt er. Und der Präsident der USA schüttelt die Hand der Köchin Xoliswa Ndoyiya, die eine weiße Schürze trägt, es habe wirklich ganz vorzüglich geschmeckt. Die Küchentür schließt sich. Das Mahl, im Jahr 1998 serviert in Mandelas Johannesburger Haus, hinterlässt zwei befreundete Staatsoberhäupter. Und eine kulinarische Diplomatin, in der der Gedanke aufsteigt, ein wenig südafrikanische Außenpolitik zubereitet zu haben, im Kleinen am Großen mitgewirkt zu haben. Ein Gefühl, das Mandela in Südafrika wie kein Zweiter wecken konnte.

Ein Vierteljahrhundert später steht die 60-jährige Köchin jetzt wieder in Schürze am Herd derselben rotbeziegelten Villa. Den kräftigen Händen, die für Mandela unzählige Male Ochsenschwanz-Eintopf zubereitet haben, hat das Leben die Furchen vertieft. Aber sie bewegen die schweren Eisenpfannen mit unvermindert routinierter Präzision. Ndoyiyas Arena, dieses großflächige zweigeschossige Haus, hat - so wie ganz Südafrika - immer neue Metamorphosen durchlaufen. Mandela zog kurz vor Ende seiner Präsidentschaft im Jahr 1999 aus. Seine einstige Residenz verfiel fortan, der Kraft ihres illustren Bewohners beraubt, gab das Haus der Last der Geschichte nach. Und bald landete auch die Köchin in der Realität eines Landes, in der langsam der viel zitierte Kitsch einer "Regenbogennation" verdunstete, die das Gedeihen aller Menschen gleich welcher Hautfarbe vorsah. Nach 18 Jahren in Mandelas Diensten erwartete Ndoyiya die Arbeitslosigkeit. Und in der verlassenen Unterkunft des ersten demokratischen Präsidenten quartierten sich Obdachlose ein.

Nun kocht Ndoyiya also wieder. Beide haben sich neu aufgerichtet: Das Gebäude, frisch renoviert und mit angemessenem Pathos "Sanctuary Mandela" getauft (zu deutsch "Zuflucht Mandela"), versucht sich an einer Renaissance als gehobenes Gasthaus. Die vierfache Mutter Ndoyiya hat hier noch einmal Arbeit gefunden und nährt nun die Sentimentalität derer, die trotz aller Ernüchterung das Versprechen nicht aufgeben wollen, für das Mandela stand. Das Versprechen auf Vergebung und Gleichheit, Fortschritt und Frieden.

Das gilt für Südafrika im Besonderen, aber auch über die Grenzen hinaus. Das Zeitalter politischer Ikonen wie Mandela ist vorbei, dabei erscheint ihre globale Strahlkraft in diesen orientierungslosen Tagen so notwendig wie selten zuvor. Wer in Mandelas ehemalige Villa reist, der traut den geschichtsträchtigen Gemäuern die Konservierung eines Gefühls der Hoffnung zu, das es außerhalb kaum noch zu finden gibt.

Zehn Jahre liegt das Ende dieses Versprechens zurück. Am 5. Dezember 2013 starb Nelson Mandela im Alter von 95 Jahren in Johannesburg, in einem Haus nur einige Straßen von der Villa entfernt. "Heute vermischt sich mit unserer Trauer der enorme Stolz, dass einer der Unseren zu Lebzeiten und jetzt in seinem Tod die Menschen Südafrikas und der ganzen Welt in einem nie erlebten Ausmaß vereint hat", sagte Mandelas wortgewaltiger Weggefährte Ahmed Kathrada bei der Beerdigung.

Dann schob er Melancholisches hinterher: "Mein Leben befindet sich in einer Leere, und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll." Die neuen Lenker steuern die Nation ohne den moralischen Kompass, den Mandela im Kleinen wie Großen stets zur Hand hatte.

Als symbolischer Mahner ist der ehemalige Präsident bis heute allgegenwärtig. Dutzende Statuen recken sich empor, die größte vor dem Regierungssitz in Pretoria. Mandelas fast zehn Meter hohes Monument steht dort mit ausgestreckten Armen, wie Jesus. Eine Gemeinde am Ostkap trägt seinen Namen, dazu zahlreiche Straßen im ganzen Land. Der Anti-Apartheidkämpfer lächelt auf Geldscheinen, lizenzierten Produkten, Postern, Graffiti. Jedes Jahr am 18. Juli ruft die Regierung anlässlich Mandelas Geburtstags die Bürger zu 67 Minuten gemeinnütziger Arbeit auf - eine Minute für jedes Jahr, in dem Mandela politisch tätig war.

Doch in den Townships erklingt mittlerweile der Vorwurf: Der Präsident habe das schwarze Volk bei den Verhandlungen zur Abschaffung der Apartheid verraten. Es wird an Mandelas Denkmälern, die er selbst nie wollte, gerüttelt - nicht physisch, aber doch moralisch. Das mag unerhört klingen beim Umgang mit einem Mann, der für den Kampf für allgemeines Wahlrecht und gegen die Rassentrennung 27 Jahre ins Gefängnis ging, es vollbrachte, unsägliches und auch persönliches Unrecht zu vergeben. Akribisch und zäh rang er um Kompromisse mit dem weißen Apartheid-Regime, verhinderte damit wohl enormes Blutvergießen. Die Zugeständnisse an die weiße Minderheit, etwa sieben Prozent der Bevölkerung, seien zu groß gewesen, werfen ihm jetzt viele junge Südafrikaner vor, vor allem jene aus der schwarzen Mehrheit von 80 Prozent.

Das jüngste Geschehen fügt sich in eine erstaunliche Zeit, in der auch anderenorts der Umgang mit nationalen Ikonen infrage gestellt wird. Die britische Cambridge-Universität ließ vor zwei Jahren per Kommission prüfen, ob ihr "Churchill College" nicht unbenannt werden müsste. Schließlich ließen sich in den Archiven einige rassistisch deutbare Zitate des Namensgebers Winston Churchill finden, was die Verantwortlichen zwischenzeitlich höher zu bewerten schienen als dessen maßgeblichen Beitrag zum Sieg über den schlimmsten Rassisten der Weltgeschichte: Adolf Hitler. Schließlich durfte das College seinen Namen behalten.

Südafrika bietet einer "Cancel Culture" aufgrund seiner eher notdürftig verheilten Narben guten Nährboden. Wenn politische Diskussionen aufkommen, ist die Hautfarbe bisweilen unsichtbarer Schiedsrichter, der darüber entscheidet, wer das Recht hat, gehört zu werden.

Manchmal ist diese enorme Empörungskultur angebracht, etwa, wenn Helen Zille, die einst die von vielen Weißen gewählte südafrikanische Oppositionspartei Democratic Alliance angeführt hat, plötzlich Verteidigungsreden für den Kolonialismus schwingt. Der sei "nicht nur negativ" gewesen, habe den Grundstein für unabhängige Justiz, Transportinfrastruktur und Leitungswasser gelegt, schwadronierte sie 2017 zur Empörung der Nation. Doch allzu oft wird die politische Bühne zum bedeutungslosen Theater, in dem die Hautfarbe des Sprechenden wichtiger ist als die Substanz seiner Worte.

Andererseits ist selbst der international oft als unantastbar angesehene Held der Unterdrückten nicht vor posthumer Kritik gefeit. Südafrika ist von den höchsten Einkommensunterschieden der Welt geprägt, und die sind trotz einer wohlhabenden schwarzen Oberschicht noch allzu oft an der Hautfarbe erkennbar. Der durchschnittliche weiße Arbeitnehmer verdient mit umgerechnet rund 1500 Euro monatlich noch immer dreieinhalbmal so viel wie ein schwarzer Arbeitnehmer. Diese nur langsam schrumpfende Ungerechtigkeit - 1990 war es das Siebenfache - weckt vielerorts mehr Emotionen als die Milliardenkorruption des regierenden African National Congress (ANC). Er zehrt bis heute vom Ruhm als einstige Befreiungsorganisation der nicht-weißen Bevölkerung gegen die Apartheid, verantwortet aber beinahe 50 Prozent Arbeitslosigkeit bei jungen Erwachsenen, eine der höchsten Kriminalitätsraten der Welt und die bedrohlich steigende Staatsverschuldung, die in einigen Jahren Südafrikas Sozialsystem gefährden könnte. Es ist mit 29 Millionen Sozialhilfeempfängern, fast der Hälfte der Bevölkerung, eines der größten der Welt.

Der Autor Jonny Steinberg, Südafrikas präzisester Chronist, schreibt in seinem aktuellen Buch "Winnie and Nelson" über zwiespältige Gefühle, die gerade einige junge schwarze Südafrikaner für Mandela empfinden, wie sie etwa in den Zeilen der jungen Dichterin Koleka Putuma zum Ausdruck kommt: "Ich möchte jemanden, der mich ansieht / und liebt, auf die Art und Weise, mit der die Weißen Mandela anschauen / und lieben."

Für die Menschen der weißen Minderheit sei Mandela "ein Talisman" geworden, es sei der Eindruck entstanden, dass "eine kleine Minderheit die Bedingungen eines bedeutsamen Übergangs diktiert hatte", notiert Steinberg. Die Vorstellung des ehemaligen Präsidenten als einen alten Mann, der die Nation bei den Verhandlungen mit den Hütern der Apartheid ausverkauft hatte, bleibe nach wie vor bestehen. Bei der Suche "nach einer brauchbaren" Vergangenheit habe sich der Blick junger Schwarzer zunehmend von Mandela abgewandt, hin zu anderen Anführern des Befreiungskampfes, wie Steve Biko, Robert Sobukwe und Mandelas Ex-Frau Winnie. Letztere spielte während Mandelas Inhaftierung als "Mutter der Nation" eine zentrale Rolle im Befreiungskampf, beging dabei allerdings Gewaltverbrechen und befürwortete öffentlich Lynchmorde an Verrätern.

Der Vorsitzende der einflussreichen Nelson-Mandela-Foundation, Verne Harris, hat veranlasst, dass jeder Stiftungsmitarbeiter Steinbergs Buch bekommt. Schließlich begegnet auch ihnen im Einsatz für Erinnerung und Dialog diese Kritik an Mandela immer wieder, besonders bei Gesprächen mit Studenten, die sich mitunter selbst dann nicht vom Gegenteil überzeugen lassen, wenn sie Zugang zu den Archiven der Stiftung erhalten, in denen Mandelas zähes, unermüdliches Ringen mit den Unterdrückern minutiös nachzulesen ist.

"Oft fehlt es am tiefen Wissen zu den Details und Hintergründen der Verhandlungen, aber mir ist diese Meinung lieber als jemand, der sich mit dem Erbe Mandelas gar nicht auseinandersetzt", sagt Harris. Südafrika brauche diese "robuste öffentliche Debatte". Und die große Mehrheit der jungen Menschen im Land habe eine Meinung zu dem Thema, diskutiere es konstruktiv. "Das ist besser als Apathie."

Ein leidenschaftlicher Diskutant ist der Student Sinawo Sangovana. In der Universitätsstadt Stellenbosch, an einem Novemberdienstag kurz vor Semesterende, sitzt der 20-Jährige mit vier Kommilitoninnen in einem Café. Sie haben gerade eine Geschichtsprüfung hinter sich, das Seminar hat sie einander bekannt gemacht, wie auch die kontroverse Debatte, die unter ihnen kürzlich entbrannte, beim Besuch auf der Gefängnisinsel Robben Island vor Kapstadt, wo Mandela einen Großteil seiner 27 Haftjahre verbrachte. "Es gibt so viele, die Denkmäler verdient hätten", sagt Sangovana, "Mandela werden zu viele Verdienste zugeschrieben, als wäre er Jesus Christus gewesen." Er verbindet den Namen Mandela mit einer falschen Weichenstellung für die Nation.

Uneingeschränkt als "Sell-out", als Ausverkäufer also, möchte keiner am Tisch Mandela beleidigen, der Respekt für seine Entbehrungen, seinen Beitrag zur friedlichen Überwindung eines unüberwindbar geglaubten Systems ist zu groß. Doch bei Milchshake und Cappuccino entsteht eine bemerkenswert tiefsinnige Diskussion zwischen jungen Kritikern und Verteidigern von Mandelas Politik.

Die Studenten kritisieren vermeintlich zu niedrige Spitzensteuersätze, die weiterhin hohen Kosten für Hochschulbildung, für die Mandela eine Mitverantwortung habe, die "neoliberale" Ausrichtung der Politik auf große westliche Konzerne, zu der auch die Zusammenarbeit mit Weltbank und Internationalen Währungsfonds beigetragen habe. All das sei letztlich bis heute mit ein Grund für die enormen Einkommensunterschiede auch in der schwarzen Bevölkerung. Und sie stören sich an der "Ikonisierung" Mandelas im schulischen Geschichtsunterricht, der kaum Platz für andere Inhalte biete.

Diese Ikonisierung überdecke den Mitverdienst vieler anderer am Sturz des Apartheid-Regimes und die Tatsache, dass Mandela auch seine heute umstrittenen Entscheidungen selten allein getroffen habe. Zudem werde, so der Tenor der Gruppe, manche aktuelle Kritik am ANC als Majestätsbeleidigung an Mandela fehlgedeutet und abgeschmettert. Leistungen im Befreiungskampf im ANC seien selbst Jahrzehnte später noch immer ein wichtiger Faktor für politische Karrieren. Was zur Folge hat, dass die Nation, in der das Durchschnittsalter der Bürger bei 27 Jahren liegt, überwiegend von Senioren angeführt wird. Wie viele afrikanische Länder.

Neulich, in einem Sammeltaxi eines Townships, unterhielt sich Student Sangovana mit einem Freund. Sie sprachen über die großzügigen Zugeständnisse an die Weißen. Aber auch die während Mandelas Präsidentschaft aufkeimende Korruption, damals beginnende und geduldete Misswirtschaft, etwa bei Sozialbauten. "Wir sind politisch frei, aber nicht gedanklich, nicht wirtschaftlich."

Ein älterer Fahrgast in dem Kleinbus schaltete sich ein: "Bist du ein Born-free?", wollte der Fremde wissen, so nennen sie in Südafrika die Generation, die nach der Apartheid geboren ist. Sangovana nickte. "Deshalb redest du so", erwiderte der Mann. Es war seine Art zu sagen, dass sich jede weitere Diskussion erübrige.

Schon kurz vor Mandelas Tod schrieb der kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe: "Eine der größten Spannungen in der südafrikanischen Politik und Kultur besteht heute in der Erkenntnis, dass die verfassungsmäßige demokratische Regelung, die 1994 die Revolution aufhob, aber die Apartheid nicht aus der sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Landschaft tilgte, etwas Ungelöstes enthält." Das Land sei gefangen in diesem Intervall zwischen einer unlösbaren Gegenwart und einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Es handele sich um eine Pattsituation, die viele jetzt gerne beenden würden.

Dazu gehört der linksradikale Populist Julius Malema, dessen EFF-Partei immerhin elf Prozent der Parlamentssitze hat. Er beschuldigt Mandela des "Ausverkaufs der Revolution". Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis habe Mandela "die Klubtreffen jener weißen Männer besucht, denen damals die südafrikanische Wirtschaft gehörte". Mandela hatte vor den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1994 zugestimmt, dass die Eigentumsrechte der Weißen gesichert würden - ein Zugeständnis, das schließlich in der progressiven Verfassung verankert wurde.

Populisten wie Malema rütteln an den entsprechenden Paragrafen und fordern eine umfangreiche Landreform im Agrarbereich, die bei ungenutzten Flächen entschädigungslose Enteignungen weißer Besitzer möglich machen. Er scheint, im Verbund mit dem linken Flügel des ANC, das Zerschneiden des dünnen Kitts, der die vielfältige Gesellschaft zusammenhält, zum Geschäftsmodell erhoben zu haben.

Zuletzt setzte Malema gerichtlich durch, öffentlich das Lied "Kill the Boer!" (Tötet den weißen Bauern) singen zu dürfen - es sei schließlich eine Hommage an den Befreiungskampf und habe mit der hohen Zahl von Morden an weißen Farmern in Südafrika nichts zu tun, so seine Argumentation. Der Richter gab dem Populisten recht, was schwer vermittelbar ist in einem Rechtsstaat, in dem Weiße schon zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt wurden), weil sie rassistische Schimpfwörter benutzt hatten.

Und als Südafrika Ende Oktober in Paris die Weltmeisterschaft im Rugby gewann, ein langersehnter Moment des nationalen Stolzes, ganz unabhängig von der Hautfarbe, da empörte sich Malema, dass die Mannschaft "Springböcke" genannt wird. Unter dieser Bezeichnung hätten die Rugby-Profis schließlich bereits während der Apartheid als Lieblingssport der Weißen firmiert.

Immerhin diesmal ging sein Vorstoß im Jubel unter, mit dem auch Tausende weiße Buren etwa den überragenden schwarzen Kapitän Siya Kolisi bei der Rückkehr des Teams empfingen, "Siya for President" riefen. Südafrika feierte gemeinsam, so wie wohl zuletzt im Jahr 1995 beim WM-Gewinn im eigenen Land. Die Siegertrophäe überreichte damals Mandela, im grünen Springbock-Trikot, er hatte ein Gespür für Gesten der Versöhnung.

Jenseits dieser raren Glücksmomente nähren sich die Vorwürfe an Mandela auch aus der Enttäuschung angesichts der Entwicklung Südafrikas, immerhin eine der 40 größten Volkswirtschaften der Welt. 70 Prozent der Bürger sagen, das Land bewege sich in die falsche Richtung - im Jahr 2010 waren es 49 Prozent. Nur jeder Vierte vertraut der Regierung des ANC, im Jahr 2005 waren es unter Mandela-Nachfolger Thabo Mbeki noch 64 Prozent.

Es sind nicht nur Volksverhetzer wie Malema, die an Mandelas Denkmal kratzen. In gewisser Weise tut dies sogar Mandelas älteste noch lebende Tochter: Makaziwe, 69. Die Akademikerin und Unternehmerin hat erst nach wochenlangem Zögern einem Gespräch zugestimmt.

Die Fahrt zu ihrem Haus im gehobenen Johannesburger Stadtteil Hyde Park erzählt von einem Volk, das sich mit routinierter Effizienz selbst organisiert, um mit den von Mandelas Nachfolgern verursachten Widrigkeiten umzugehen. Der Strom ist mal wieder ausgefallen, und mit ihm die Ampeln. Arbeitslose, die sonst am Rande der Gesellschaft verweilen, treten aus dem Schatten hervor und übernehmen eine unerwartete Rolle als Verkehrsdirigenten. Es ist, als ob die Unsichtbaren, von einem Versicherungsunternehmen mit Almosen für ihre Dienste entlohnt, die Verantwortung für das Chaos übernommen haben, um eine gewisse Form der Ordnung aufrechtzuerhalten.

Das Tor zum Anwesen öffnet sich, in der Haustür steht im farbenprächtigen Kleid die elegante Mandela-Tochter, die über das gleiche sanfte Lächeln wie ihr Vater verfügt, es aber zunächst nur zögerlich einsetzt. Zuletzt hatten sich Journalisten vor allem am Nachweis abgemüht, dass neben dem ANC auch die eigene Familie manchmal an Mandelas Idealen von Vergebung scheitert. Die Nachkommen aus seinen ersten beiden Ehen stritten um Familiengrabstätten, Angelegenheiten der Stiftung, Artefakte und andere Hinterlassenschaften.

Doch jetzt soll es um Mandelas politisches Schaffen gehen, und auch da hat die Tochter nie mit klaren Positionen und Widerreden gezögert. Der Vater verlangte regelrecht danach, wollte keine Kopie seiner eigenen Gedanken, keine "Ja"-Tochter. Diesen Wunsch erfüllt sie noch immer. Die Politik ihres Vaters erscheint ihr zu sehr an den Interessen des Westens ausgerichtet, zu kapitalistisch, zu neoliberal. Doch ein Ausverkäufer Südafrikas? Das sei ihr Vater nicht gewesen.

"Es ist einfach, einen Mann zu kritisieren, wenn man nicht in seinen Schuhen gestanden hat", sagt sie, "wenn man nicht vor Gericht war, in der Bereitschaft zu sterben. Wenn man nicht 27 Jahre ins Gefängnis gegangen ist." Und danach nicht vor der unlösbar anmutenden Aufgabe stand, nach 350 Jahren der Unterdrückung einen friedlichen Übergang zur Demokratie anzuführen. Dass dies gelungen sei, wie unvollkommen auch immer, sei ein großer Verdienst gewesen.

Doch verklären will Makaziwe Mandela ihren Vater nicht, vielleicht, weil sie selbst Opfer brachte, bringen musste. Öffentlich sprach sie über ihre Wut und Bitterkeit, die sie in ihrer Jugend wegen des fehlenden Vaters fühlte. Nelson Mandela stellte den Kampf für das Volk über die Familie, ließ die "Kinder verwundbar zurück", wie er "den schmerzhaftesten Aspekt" seines Lebens einst selbst beschrieb.

Ihr Vater habe bei seiner Freilassung eigentlich die mächtigen, von Weißen dominierten Bergbaufirmen nationalisieren wollen, sagt die Tochter. Doch dann habe er sich umstimmen lassen, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, vom britischen und amerikanischen Einfluss sowie den Präsidenten der asiatischen Tigerstaaten. "Es war sein größter Fehler, dass er die sozio-ökonomische Struktur der Apartheid intakt gelassen hat", sagt Makaziwe Mandela, "wir hatten die politische ohne die wirtschaftliche Macht - ein hohler Sieg." Doch für die aktuellen Probleme des Landes sei maßgeblich der marode ANC verantwortlich, stellt sie klar.

Auf dessen Konto gehen die Milliardenkorruption in den Staatskonzernen, die Energiekrise, miserable Bildungsergebnisse, stagnierende Wirtschaft und eine Verwaltung, die es noch immer nicht geschafft hat, das Dach seines eigenen Parlaments zu ersetzen, das vor nunmehr knapp zwei Jahren abgebrannt ist. Ein treffenderes Symbol für den Zustand des südafrikanischen Staates könnte es kaum geben.

Die Partei ihres Vaters hätte es aus Sicht von Makaziwe Mandela verdient, für seine Versäumnisse im kommenden Jahr an der Wahlurne abgestraft zu werden, der ANC könnte Analysten zufolge erstmals die absolute Mehrheit und damit die Alleinherrschaft verlieren. "Mein Vater hat immer gesagt, dass die Menschen jedes Recht haben, den ANC abzuwählen, wenn er nicht mehr abliefert." Die Partei sei zerstritten, "und wenn die Zweige kämpfen, dann kann der Baum nicht überleben."

Die Tochter redet nun ausführlich über ihre Vorstellung von südafrikanischer Demokratie, die Suche nach "Entwicklungsmodellen, die wirklich funktionieren". Bewundernd erzählt sie von ihren Reisen nach China, das innerhalb kürzester Zeit 200 Millionen Menschen aus dem Sog der Armut gezogen habe. Und wo Mitglieder des Politbüros der Kommunistischen Partei einen Universitätsabschluss vorweisen müssten - eine Regel, die dem ANC guttun würde, findet die eloquente Akademikerin. Sie spricht von den Vereinigten Arabischen Emiraten, "die auch nicht immer freundlich mit ihren Kritikern seien, aber Fortschritte erzielen". Und von ihrem "Favoriten", Ruandas Präsidenten Paul Kagame, einem "visionären Anführer, der die Sachen gebacken bekommt". So einen bräuchte Südafrika, meint die Mandela-Tochter, unbeirrt von Kagames Kritikern, die ihn nicht ohne Grund als Autokraten bezeichnen.

Die Demokratie-Skepsis entspricht durchaus dem Zeitgeist auf dem Kontinent, wo die jüngsten Putsche in Westafrika teils erschreckend viel Zuspruch bei der Bevölkerung fanden. Und wo der renommierte "Ibrahim-Preis" für ehemalige Präsidenten, die sich in besonderem Maße um die Demokratie verdient gemacht haben, in den vergangenen fünf Jahren mangels offensichtlicher Kandidaten nur einmal vergeben worden ist. Nelson Mandela war im Jahr 2007 der erste Preisträger.

Zwei Flugstunden südwestlich von dem Anwesen in Hyde Park, in den sandigen Straßen von Khayelitsha, einem endlos erscheinenden Township abseits der florierenden Touristengegenden und Bürohochhäuser Kapstadts, lebt ein 55-Jähriger, der zu viel für Südafrika geopfert hat, um den Glauben an sein Land aufzugeben. Das Zuhause von Jimmy Kula ist ein auf Dünen gebautes Hüttengebilde, zusammengewürfelt aus alten Holzplanken und Wellblech, und es drängt sich die Frage auf, ganz wie bei Südafrikas Gesellschaft, was es in all den Stürmen zusammenhält. Seit einem Jahrzehnt versprechen ihm die Behörden ein Steinhaus, ähnlich klein, aber stabil. Er wartet.

Ein Leben lang engagiert sich Kula für eine Zukunft, die sich in der Ferne zu verlieren droht. Ab 1976, dem Jahr des vom Apartheid-Regime blutig niedergeschlagenen Soweto-Aufstandes, kämpfte er im Widerstand der United Democratic Front. Ihre beachtliche Rolle auf dem Weg zur Demokratie ging unter im Schatten des ANC, der sich dafür weiterhin sämtliche Anerkennung aneignet.

Wie Mandela wollte Kula den Wandel zunächst mit friedlichem Widerstand, dann auch unter Inkaufnahme von Gewalt, mit selbst gebauten Brandsätzen. Der Mann und seine Kameraden griffen strategisch Polizei- und Gemeindegebäude an, mit dem Ziel, die Infrastruktur des Apartheid-Systems zu zerschlagen.

Den Soldaten konnte er, anders als so manch getöteter Mitstreiter, während der Apartheid entwischen. Der Arbeitslosigkeit entkam er später nicht. Eine Zeitarbeitsfirma vermittelte ihn an Krankenhäuser, wo er Maschinen wartete, bis hin zu den Kühlmaschinen im Leichenschauhaus, die Agentur strich dafür mehr als die Hälfte seines Lohns ein. Vor einem Jahr war Schluss. Seitdem ringt Kula wieder um seine Existenz. Für die Verwirklichung seines Traums, der Gründung eines kleinen Recycling-Unternehmens, fehlt ihm das Kapital, nicht aber der Glaube.

Er sucht die Schuld für das Darben der Nation beim ANC, auch bei den vielen Arbeitsmigranten, die aus anderen afrikanischen Ländern anreisen. Mandelas Namen will er dagegen nicht beschmutzen. Er erinnert sich an die Ermordung des hochrangigen ANC-Politikers Chris Hani im Jahr 1993 durch einen weißen Rechtsradikalen, was die demokratische Erfolgsgeschichte fast noch zur Tragödie umgeschrieben hätte. "Ich war damals bereit, mit der Waffe in der Hand zu sterben, im Krieg", sagt Kula, "das waren wir alle."

Nelson Mandela habe ihn und die gesamte Nation beruhigen können, das werde er nie vergessen. "Sein Wirken verdient größten Respekt, da er keine Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß machte, sondern für die gesamte Gemeinschaft eintrat." Nur durch Mandela hätten sich überhaupt neue Chancen für das Land ergeben. Auch er höre den Vorwurf des Ausverkäufers gegenüber Mandela zwar immer wieder, sagt Kula noch. "Doch das können nicht mehr als fünf Prozent der Südafrikaner sein." Und die hätten die Geschichte des Landes nicht verstanden.

Köchin Ndoyiya sitzt in einem Sessel des alten Mandela-Hauses, das trotz all ihrer harten Arbeit immer die Oase ihres Lebens bleiben wird. "Er hat uns alle gelehrt, dass wir die Dinge nicht allein vollbringen können, dass wir uns gegenseitig brauchen", sagt sie, "aus meiner Sicht hatte er Erfolg. Er hat uns eine gewisse Zeit angeführt, uns gezeigt, wie wir als Volk zusammenstehen können." Mehr erwartete sie nie. Nie würde sie ihre zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit auf seine Präsidentschaft zurückführen.

Ndoyiya hat während ihrer Zeit mit Mandela vor allem erkannt, dass dessen Erfolg nicht nur in seiner großen Empathie, die sie manchmal zu Tränen rührte, sondern auch in seinem Arbeitseifer begründet war, seiner beispiellosen Disziplin. Ein Pflichtgefühl, das er vorlebte, und von anderen einforderte. Nicht zuletzt von seiner Köchin.

Jeden Morgen, oder eher inmitten der Nacht, um 3:30 Uhr, servierte sie ihm das Frühstück. Haferbrei mit getrockneten Rosinen, dazu ein Teller mit frischen Früchten, etwas Kaffee, für den gesundheitsbewussten Präsidenten natürlich ohne Zucker. Mandela erachtete sein Frühstück als ersten Takt des Tages, dem die Bewältigung unzähliger Aufgaben folgte. Darunter die Rettung der Nation.

Das Servieren des Frühstücks musste also pünktlich geschehen, schließlich machte er danach Sport, las Akten, die Zeitung. Einmal klopfte die Köchin fünf Minuten zu spät an der Schlafzimmertür. Mandela begrüßte sie kurz mit einem freundlichen Lächeln und ging, das Frühstück ignorierend, an ihr vorbei. Es war das letzte Mal, dass Ndoyiya zu spät kam.

Mandela habe immer darauf gehofft, dass andere sein Werk fortführen würden, sagt Ndoyiya. "Er wollte nie als Heiliger wahrgenommen werden. Aber er hat uns die Tür geöffnet."

Hindurchgehen müsse jeder Einzelne.