Die verlassene Familie
Als das Mädchen nach vier Tagen ihren Vergewaltigern entkommt, spricht es auf der Straße mit letzter Kraft eine alte Frau an. Die Rentnerin zögert nicht, bringt die 15-Jährige zur Klinik des Motherwell-Townships in der südafrikanischen Ostkap-Provinz. „Wir fassen Vergewaltigungsopfer nicht an“, bekommen sie zu hören, das sei erst einmal Sache der Polizei.
Also schleppen sich beide weiter, zur Polizeistation. „Hinten anstellen“, heißt es dort. Das Mädchen. Nach einigen Minuten übergibt sie sich, spuckt Schaum – und stirbt, direkt neben dem „Victim Friendly Room“. Auch hier war ihr der Raum für Vergewaltigungsopfer verwehrt geblieben.
Auf einem Friedhof geht die Mutter schweren Schrittes vor den an Felsbrocken gelehnten Grabstein mit der Gravur: Zenizole Vena, geboren 5. Juni 2007, gestorben 21. September 2022. Darunter: „Du hast uns zwar verlassen, aber die Erinnerungen an dich werden in unseren Herzen weiterleben.“ Ich denke jeden Tag an dich, flüstert Nomathamsanqa Vena, die Mutter. Und ich werde für dich kämpfen.
Seit 20 Monaten nun. Für die Bestrafung der Täter, die offiziell unbekannt sind, aber viele verdächtigen eine Gruppe junger Erwachsener. Es geht um Gerechtigkeit. Für Zenizole, genannt Zeni, die Klassenbeste aus der „9e“, die Pilotin werden wollte. Und gegen das Staatsversagen, das dem Mädchen wohl das Leben gekostet hat. Und das danach auch ihre Familie erlebt hat.
In den Straßen vor dem Friedhof hängen Plakate der Regierungspartei „African National Congress“ (ANC). Darauf wirbt sie um Stimmen für die Wahlen am Mittwoch, unter dem Konterfei von Präsident Cyril Ramaphosa: „Lasst uns mehr tun, zusammen.“ Und Vena fragt sich, wieviel mehr Leid denn noch. Die 38-Jährige wird den ANC erstmals nicht wählen.
Auch Bürger mit weniger traumatischen Erfahrungen wenden sich ab, wegen anhaltender Korruption, Rekordarbeitslosigkeit von 33 Prozent und Stromausfällen. In Umfragen wird dem ANC teils deutlich die erstmalige Verfehlung der absoluten Mehrheit und damit ein Absturz von seinen zuletzt 57 Prozent vorhergesagt. Einzig die fortschreitende Fragmentierung der Opposition wird den ANC wohl als Teil einer Koalition an der Macht halten. Und Resignation. 42 Prozent der Wähler sind unter 40 Jahren, für sie zählen die historischen Verdienste des ANC wenig. Sollte die Partei den ganz großen Fall verhindern, dann wohl nur, weil unter diesen Jungwählern, die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist.
Auch Mutter Vena wird am Wahltag zu Hause bleiben. Sie hat jedes Vertrauen in den Staat verloren. In Ramaphosa, der zwar ein besserer Präsident als sein korrupter Vorgänger Jacob Zuma ist, aber den meisten Empfehlungen einer Kommission zur Aufarbeitung der Staatsplünderung unter ANC-Aufsicht nicht gefolgt ist. Auch für Vena persönlich hat er versagt. Bei der Jobsuche für ihre Familie, die von zwei Brüdern mit Teilzeitjobs über Wasser gehalten wird.
Aber auch bei der Bewältigung ihres Traumas sieht sie sich alleingelassen. Ramaphosa kündigte schärfere Gefängnisstrafen gegen Vergewaltiger an – mit über 43.000 registrierten und Schätzungen zufolge 500.000 tatsächlichen Vergewaltigungen jährlich gehört Südafrika zu den gefährlichsten Ländern für Frauen.
Der Tod von Zeni löste besonderes Entsetzen aus. Weil es Demonstrationen gegeben hatte, verfasste der Ombudsmann des Gesundheitsministeriums einen Bericht, attestierte den ANC-kontrollierten Behörden Versagen bei der Notversorgung. Auf die skandalösen Umstände danach ging er nicht ein. Der Staat organisierte nicht einmal psychologische Betreuung der Familie.
Stattdessen brachte man sie in ein Büro des regionalen Gesundheitsministeriums, nachdem sie ihre Frustration in Interviews zum Ausdruck gebracht hatte. „Dies ist das Büro der Angebote“, habe einer der ANC-Politiker gesagt. Vena interpretierte das als: Geld gegen Schweigen. Sie lehnte ab.
Nun sitzt sie im Haus ihrer zwei Brüder im Motherwell-Armenviertel, in das sie eingezogen ist – wie vorher als Haushaltshilfe zu arbeiten ist unmöglich. Auf dem Boden spielen ihre Zwillinge, die kurz vor dem Tod der Schwester geboren worden waren. Seitdem konnte die Mutter ihnen nicht mehr die Brust geben, der Kummer raubt ihr die Milch. Sie weint auch jetzt. „Südafrika hat mich im Stich gelassen“, sagt sie.
Ihre wenige verbliebene Kraft widmet sie der Suche nach Gerechtigkeit. Sie führt Vena heute zum Polizeirevier. Die Obduktion hatte eine Überdosis Antibiotika ergeben. Zenis Vergewaltiger, da ist die Mutter sicher, haben sie verabreicht, damit die Vergewaltigung nicht auffliegt. Diesmal wird sie sich nicht abwimmeln lassen.
Kurz verlangsamen sich die Schritte, als sie die Stelle passiert, an der Zeni einst kollabierte. Die Beamtin hört sich ihr Anliegen an, telefoniert – und führt Vena schließlich zum Hinterhof. Dort sitzt der Kommandant, schaut Kollegen beim Volleyballspielen zu. Er wisse nichts zu dem Fall, sagt der Mann. Aber vielleicht ein Kollege, in einer Station am anderen Ende von Motherwell.
Dort erinnert sich der diensthabende Kommandant, ein kräftiger Bure, sofort. „Ich bin erst seit November hier, da war der Fall abgeschlossen. Natürliche Todesursache. Das fand ich nicht nachvollziehbar, ich habe ihn wieder geöffnet“, sagt er der Mutter, der niemand gesagt hatte, dass die Ermittlungen eingestellt worden waren. Der Polizist zeigt auf zwei Stapel Akten auf dem Boden. „Einige liegen da seit 18 Monaten, weil die Gerichte überlastet sind.“
Zeni könne ja nicht mehr als Zeugin fungieren, rechtfertigt sich der Mann, die Aussage der alten Frau zu der Vergewaltigung würde als Hörensagen gelten. Vielleicht habe man die Ermittlungen deshalb nicht weiter forciert. Aber auch er habe keine Erklärung, warum von einer natürlichen Todesursache die Rede ist. „Ich habe neue Ermittler angesetzt“, versichert er Vena, „wir werden alles tun, was wir können.“ Als er sie zum Ausgang führt, sagt der Kommissar noch, er wisse um ihr Leid.
Vena nickt nur.
Auf dem Flur vor dem Büro hängt ein gerahmtes Kitschfoto eines Löwen, mit dem Schriftzug: „Es zählt nicht die Stelle, auf der du stehst, sondern die Richtung, in die du schaust.“
In Südafrika, so scheint es, haben zu viele weggeschaut.