Christian Putsch

Abschied von Südafrikas letzter Ikone

Christian Putsch
Abschied von Südafrikas letzter Ikone

Desmond Tutu war neben Nelson Mandela die große moralische Instanz Südafrikas, für das er den Traum der Regenbogennation am Leben erhielt. Tutu trug unermüdlich zum Sturz des Apartheid-Regimes bei – und legte sich danach unverändert vehement mit den neuen Mächtigen an. Er starb am Sonntag im Alter von 90 Jahren in Kapstadt

Ein Quälgeist, wie er sich selbst nicht ohne Stolz bezeichnete, blieb Desmond Tutu bis in seine letzten Lebensjahre. Besonders für die Mächtigen Südafrikas, gleich welcher Hautfarbe. Seine Tiraden richteten sich zuletzt immer wieder gegen den African National Congress (ANC), den der emeritierte Erzbischof von Kapstadt im Kampf gegen die Apartheid noch mit womöglich entscheidender Wortgewalt unterstützt hatte.

Im Jahr 2011 hatte die vom ANC dominierte Regierung dem Dalai Lama, das Visum verweigert – Tibets geistigem Oberhaupt blieb so wegen Südafrikas Duckmäusertum gegenüber dem wichtigsten Handelspartner China die Teilnahme an Tutus 80. Geburtstag verwehrt. „Schlimmer als die Apartheid“ sei die Administration von Präsident Jacob Zuma, übertrieb der Südafrikaner damals auf einer Pressekonferenz mit weit aufgerissenen Augen und mahnend schwingendem Zeigefinger, „es wird der Tag kommen, da werden wir für das Ende des ANC beten.“ 

Tutu sah sich während seines 90 Jahre langen Lebens nur einem Anliegen bedingungslos verschrieben. Der Gerechtigkeit. Am Sonntag ist er in Kapstadt gestorben. Präsident Cyril Ramaphosa würdigte ihn als „ikonisches geistlichen Oberhaupt, Anti-Apartheid-Aktivist und globalen Menschenrechtskämpfer“. Sein Tod markiere einen weiteren Abschied „von einer Generation herausragender Südafrikaner, die uns ein befreites Südafrika hinterlassen haben“.

Nach dem Tod von Nelson Mandela im Dezember 2013 war er die letzte verbliebene, landesweit anerkannte moralische Instanz Südafrikas, für das Tutu einst hoffnungsfroh die Metapher der Regenbogennation geprägt hatte. Er arbeitete unermüdlich am friedlichen Sturz des Apartheid-Regimes, anders als zeitweise Nelson Mandela hatte er immer an das Erreichen dieses Ziels ohne Waffen geglaubt. Er war das Sprachrohr der Gegner von Rassismus jeder Form. Und von jenen Mahnern, die das neue Südafrika allzu oft mit mehr Enttäuschung als Stolz erfüllt.

Kaum jemand setzte sich so ausdauernd und charismatisch für Aussöhnung ein. Während Mandelas jahrzehntelanger Haft war Tutu in Abwesenheit der nahezu vollständig weggesperrten ANC-Führung das weltweit beachtete Gesicht der Anti-Apartheid-Bewegung. Während die politisch einflussreiche „Dutch Reformed Church“, die niederländisch-reformierte Kirche, die Rassentrennung mit der Bibel zu erklären versuchte, setzte Tutus Anglikanische Kirche im Verbund mit Dutzenden anderen Kirchen und religiösen Vereinigungen auf friedlichen Widerstand. Stets vorneweg: ein kleiner Mann im violetten Bischofsgewand. 

Seinen Beruf als Lehrer hatte der 1931 geborene Tutu aus Protest gegen neue Benachteiligungen von schwarzen Studenten Ende der fünfziger Jahre aufgegeben und Theologie studiert. 1975 schrieb der vielleicht politischste Priester des 20. Jahrhunderts dem damaligen Premierminister Balthazar Johannes Vorster einen offenen Brief und bezeichnete die Situation in Südafrika als ein „Pulverfass, das jederzeit explodieren kann“. Nur ein Jahr später starben beim Studentenaufstand in Soweto und Unruhen in anderen Townships fast 600 Menschen ums Leben. 

Nach dem von weißen Polizisten verübten Mord an dem Bürgerrechtler Steve Biko im Jahr 1977 durch weiße Polizisten beschwichtigte Tutu 20.000 aufgebrachte Menschen bei der Beerdigung. Während von Mandela über Jahrzehnte hinweg kein Bild veröffentlicht werden durfte, gewöhnten sich die Südafrikaner an Tutus Foto in den Zeitungen: bei Friedensmärschen oder Protesten an Orten, die für die weiße Minderheit reserviert waren. Eine Prämisse musste für ihn immer erfüllt sein: Veranstaltungen mit Tutu sollten ohne Gewalt auskommen. In Kapstadt rettete er bei einer Massenkundgebung während der achtziger Jahre einen Mann vor Lynchjustiz, Umstehende wollten ihn als Spion der Regierung erkannt haben. Wenn die Praxis der Selbstjustiz nicht aufhöre, werde er auswandern, drohte Tutu. Die Menschen ließen von dem Mann ab, allerdings hatten die Worte des Geistlichen nur begrenzten Effekt. Bis heute werden vermeintliche Verbrecher immer wieder an Ort und Stelle von Anwohnern und Passanten schwer verletzt oder gar getötet.

Tutu wusste, dass trotz des steigenden Widerstands in der Bevölkerung das Regime nicht ohne externe Hilfe zu Fall gebracht werden könnte – zu überlegen war die Armee, damals die stärkste in Afrika. Immer wieder reiste er in alle Teile der Welt und forderte Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika. Seine Wut traf besonders die bis in die achtziger Jahre tatenlose USA, in seinen Augen „Kollaborateure von Rassisten“. Tutus Argumentation: Würden die Weißen den Schwarzen ihre Freiheit vorenthalten, dann würden auch sie nicht frei sein können, weil beide Volksgruppen in ständiger Angst voreinander leben müssten.

Die damalige südafrikanische Regierung entzog dem brillanten Rhetoriker zweimal den Pass. Doch spätestens nachdem dem Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates, in dem rund 13 Millionen Christen organisiert waren, im Jahr 1984 der Friedensnobel-Preis verliehen worden war, bot die weltweite Bekanntheit einen gewissen Schutz vor staatlichen Repressalien. Er hatte letztlich Erfolg, der Handelsboykott gehörte zu den wichtigsten Gründen für den Regimewechsel. Gleichzeitig blieb Tutu auch in der Heimat präsent. Als Südafrika wegen des Konflikts zwischen den beiden größten Volksgruppen, den Xhosas und Zulus, am Rande eines Bürgerkriegs stand, war der Xhosa Tutu einer der wichtigsten Vermittler.

Selbst nach dem Ende der Apartheid ging Tutu, der 19 Bücher geschrieben oder herausgegeben hat, die Energie beim mühsamen Aufbau der neuen Nation nicht aus. Mandela bat ihn im Jahr 1995, die „Kommission für Wahrheit und Aussöhnung“ (Commission for Truth and Reconciliation) zu leiten. Wer hier seine rassistisch motivierten Verbrechen gestand, ging mit wenigen Ausnahmen straffrei aus. Tutu war der Ansicht, dass nur das Opfer selbst vergeben könne, und nicht der Staat. Er hörte Tausende schreckliche Geständnisse. Der Religionsführer wusste um die Schwierigkeit der Vergebung. Als Kind hatte er miterleben müssen, wie sein Vater alkoholisiert die Mutter geschlagen hatte – es dauerte Jahrzehnte, bis er ihm verzeihen konnte.

Tutu mischte sich auch nach seinem weitgehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit im Jahr 2010 weiter in Debatten ein. Oder er engagierte sich mit Leah, mit der er seit 1955 verheiratet war, in der Stiftung des Paares. Vor den Wahlen 2014 entzog er dem ANC unter landesweitem Aufsehen sein Vertrauen. Die Organisation sei gut im Befreiungskampf gewesen, sagte er, als politische Partei versage sie dagegen – den Refrain vieler afrikanischer Länder einmal auf seine Heimat zu beziehen, hatte er lange für ausgeschlossen gehalten. Er selbst bekam das Scheitern der Regierung beim Kampf gegen das Verbrechen zu spüren. Zweimal wurde bei ihm eingebrochen. Seine Medaille für den Friedensnobelpreis war Teil des Diebesguts.

Resignieren aber kam für den Vater von vier Kindern nie in Frage. Er blieb einer der wenigen Mahner, dem alle Südafrikaner zuhörten. Tutu war wie ein Spiegel der Nation, die mit ihm trauerte, lachte und seine Wut teilte. Die neuen schwarzen Superreichen seien „unmoralisch“, mahnte Tutu, schließlich nehmen die notorisch großen sozialen Unterschiede in Südafrika weiter zu. Auch wenn beim Rugby, traditionell der Sport der Weißen, noch immer kaum ein Schwarzer in der Nationalmannschaft repräsentiert war, hob der kleine, große Mann mahnend die hohe Stimme. Wenn es sein musste, dann auch gegen die Werte vieler Kirchen: Wenn Gott wirklich homophob sei, würde er ihn nicht anbeten können, gab er zu Protokoll. Seine Tochter Mpho heiratete im Mai 2016 eine Frau. Sogar für das Recht auf Sterbehilfe engagierte sich Tutu, nicht zuletzt, weil er das monatelange Siechtum von Nelson Mandela miterleben musste.

Auch international wurde er weiter gehört. Tutu kritisierte die lasche Haltung Südafrikas gegenüber dem Diktator Robert Mugabe im Nachbarland Simbabwe, der seine Menschenrechtsverletzungen nicht zuletzt wegen der stillen Duldung Südafrikas begehen konnte. Mal führte Tutu einen Marsch gegen Israels Politik in den Palästinensergebieten an, mal forderte er eine Anklage gegen den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush vor dem Weltstrafgericht. Zuletzt war der Klimawandel eines seiner großen Themen, nach dem Ende der Apartheid in seinen Augen „der neue globale Feind“. Nicht nur ein Südafrika ohne seine meist so treffenden Worte ist kaum vorstellbar. Sie werden weltweit fehlen.

Tuberkulose hatte er vor Jahrzehnten besiegt, der Prostatakrebs aber hatte seinen Körper über Jahre hinweg geschwächt. Der Tod war für ihn nie ein Tabu. Während er sterbe, sagte er einmal dem Magazin „Cicero“, wolle er Mozarts „Laudate Dominum“ hören, gesungen von der neuseeländischen Opernsängerin Kiri Te Kanawa. Es schien, als sei er auf seinen Tod vorbereitet gewesen. 

Die Nation ist es nicht. Für Mandela hatte sich Tutu ein nicht-materielles Denkmal gewünscht – „eine Demokratie, die wirklich funktioniert und in der jeder weiß, dass er genau so wie der Mitmensch zählt“. Die Errichtung dieses Monuments ist seit Langem in Arbeit. Auch Tutu hätte die überfällige Fertigstellung verdient. Auf dem Weg dorthin werden sein erhobener Zeigefinger und sein Lachen schmerzlich fehlen.