Durchgerungen
Im Senegal ist traditionelles Wrestling der populärste Sport, die besten verdienen Hunderttausende Euro. Doch nur wenigen hilft der Sport aus der Armut
Von Christian Putsch
Dakar – Am Morgen seines größten Kampfes hat Baye Mandione 60 Leute in seinem winzigen Wohnzimmer. Die Familie kocht für die Nachbarn, so will es die Tradition. Im Gegenzug beten sie für seinen Sieg. Draußen stehen Hunderte, Mandione hört dumpf, wie sie seinen Namen rufen. Er versucht, Kraft aus ihrer Unterstützung zu ziehen. Am Abend wird sich Modou Lo vor ihm aufbauen, der beste Ringkämpfer Senegals.
Es wird der größte Fight seines Lebens, und damit der letzte Schritt einer Transformation, von dem Hunderttausende im Senegal träumen: Vom armen Fischerjungen zum Star im traditionellen Wrestling, mit dem sich in dem westafrikanischen Land Hunderttausende Euro verdienen lassen. Beinahe jeder Zweite der 15 Millionen Einwohner lebt in Armut, besonders auf dem Land wirkt der Ringkampf wie der einzige Ausweg.
Mandione hat es geschafft. Zuerst nach Dakar, zu einer der begehrten Akademien. Dann zu einem der Superstars der Szene. Seine Nachbarn begleiten ihn singend zum Stadion. Sie nennen ihn den „Löwen von Thiaroye“, dem stolzen Arbeiterviertel von Dakar. Einst, im Jahr 1944, verübten die Franzosen hier ein Massaker an Hunderten Senegalesen, die im Dienste der Kolonialmacht kämpfte und sich gegen die miserablen Unterkünfte beschwert hatten. Über Jahrzehnte verbanden die Menschen den Tod mit Thiaroye. Nun denken sie an mich, schießt es Mandione durch den Kopf. Ich muss gewinnen.
Auf dem Weg zum Stadion steht er auf der Ladefläche eines Pick-Up-Jeeps. Der Wagen fährt im Schritttempo, Mandiones Fans blockieren tanzend immer wieder den Weg. Sie tragen T-Shirts mit seinem Konterfei, daneben das Logo eines boomenden Mobilfunkunternehmens. Die Leute wissen, dass er selbst für eine Niederlage 45 Millionen CFA-Franc bekommen wird, umgerechnet 75.000 Euro, schließlich wurde die Vertragsunterzeichnung im Fernsehen übertragen. Das ist mehr, als die gesamte Nachbarschaft im Jahr verdient. Aber er ist nie weggezogen. Der Löwe bleibt einer von ihnen. Irgendwie.
Mindestens 10.000 Leute sind im Stadion, darunter Politiker, prominente Musiker und Fußballstars. Die Anhänger von Modou Lo sind in der Überzahl, sie singen lauter, sie trommeln lauter. Das Fernsehen überträgt live. Mandione lässt sich die Nervosität nicht anmerken. Doch diesmal betet er besonders lang mit seinem Imam, ein traditioneller Medizinmann hängt ihm drei Amulette um, eines um den Hals, die anderen um die mächtigen Oberarme. „Gris-Gris“ nennen sie den Voodoo-Zauber.
Ansonsten trägt er lediglich einen Lendenschurz, den „Nguimb“, wie alle Wrester in Senegal. Längst haben die Ringkämpfer die Fußballspieler von der Spitze der nationalen Popularitätsskala abgehängt. Der Sport lässt sich bis zu Kämpfen zwischen Herrschaftsfamilien im 11. Jahrhundert zurückführen. Über Jahrhunderte maßen sich Dörfer, indem sie ihre stärksten jungen Männer in mit Sand ausgelegten Ring schickten, 20 Meter Durchmesser. Erst wer hier besteht, gilt als Mann.
Mandione ist der stärkste Mann, aber nur von Thiaroye. Modou Lo ist der hohe Favorit, in einer Liga mit Yékini, dem erfolgreichsten aber alternden Kämpfer der Serer-Ethnie oder Bombardier, oder Bombardier, dem Mann mit den wohl breitesten Schultern des Landes. Sie kassieren Kampfbörsen von bis zu 200.000 Euro. Gewinnt der Löwe von Mandione, steigt auch er in diese Kategorie auf.
Es ist ein Kampf der Kolosse, beide wiegen um die 130 Kilogramm. Lo nimmt eine Hand voll Sand, schmeißt sie provozierend vor Mandione auf den Boden. Dann tritt der ganz in Weiß gekleidete Schiedsrichter einen Schritt zurück, das Signal für den Beginn des Kampfes. Die beiden Männer belauern sich, tänzeln gebückt, strecken ihre mächtigen Arme drohend in Richtung Gegner aus, nehmen sie wieder zurück. Es gilt, die Beine zu schützen. Wer eines greifen kann, der wirft seinen Widersacher leicht um – das Ende des Kampfes.
Nach 90 Sekunden startet Mandione den ersten Angriff. Doch Lo behält das Gleichgewicht, mit verkeilten Armen stemmen sie sich gegeneinander. Drei Minuten verharren sie in dieser Patt-Situation, dann gelingt es Lo, mit beiden Händen den Lendenschurz zu greifen – der ideale Punkt, den Gegner aus der Balance zu bringen. Der Löwe von Thiaroye versucht sich mit Schlägen auf den Körper zu befreien. Erfolglos. Ein letzter Angriff von Lo, dann fällt Mandione. Nach fünf Minuten ist der größte Kampf seines Lebens verloren.
Mandione sitzt in seinem Wohnzimmer, das gleichzeitig das Schlafzimer ist. Fünf Jahre ist sein großer Kampf her, zuletzt verlor der 32-Jährige gegen einen weitgehend unbekannten Wrestler. Seine Trophäen stehen auf der Kommode, den Schränken, dem Sims des Fensters in Richtung Innenhof. Auf dem Fernsehbildschirm flimmern Szenen seiner besten Kämpfe – er hat eine DVD eingelegt.
War es das? Zuletzt nahmen die Verletzungen zu, doch Mandione will weiterkämpfen. Noch ein paar Jahre, so lange es irgendwie geht. Und wenn nicht? Dann bleiben immerhin Ersparnisse. Mandione ist sich seines Glückes bewusst. Nach wenigen Jahren in der Schule wurde er schon als Kind Fischer – und hätte er mit 15 Jahren nicht ein Nachwuchsturnier gewonnen, wäre er es wahrscheinlich noch immer.
Tausende Jugendliche zieht es in die Hauptstadt Dakar, auf den Dörfern sehen sie keine Zukunft. Der Wirtschaftsaufschwung von zuletzt sechs Prozent jährlich hat die Armut nur unwesentlich reduzieren können – die Bevölkerung wächst rasant, über die Hälfte ist arbeitslos, besonders für die Jugend gibt es nicht genug Jobs. Rund 10.000 Migranten kamen in diesem Jahr illegal in Italien an, mehr als je zuvor. Damit belegt der Senegal Platz 6.
In Dakar betteln 30.000 Kinder in oft zerlumpter Kleidung auf den Straßen. Sie kennzeichnen das Stadtbild wie in wenigen anderen afrikanischen Metropolen. Der Tourismus als eine der Haupterwerbsquellen leidet noch immer, wie in ganz Westafrika, unter den psychologischen Nachwirkungen der Ebola-Krise. Dabei liegt der einzige Fall im Senegal über zwei Jahre zurück, die Epidemie wurde Anfang 2016 für besiegt erklärt.
Schon morgens um fünf Uhr sind die Strände der Küstenstadt voll mit Talenten, die im Sand hart trainieren. Die Stadt hat so massiv wie keine andere in Afrika in frei zugängliche Fitnessgeräte am Strand investiert. Sie werden von der auffallend sportbewussten Mittelklasse des Landes genutzt – und von Tausenden, die Wrestling für den einzigen Weg des sozialen Aufstiegs halten. 8000 arbeitslose junge Männer haben sich bei der CNG registriert, dem Wrestling-Verband, was zur Teilnahme an den Turnieren der unteren Kategorie berechtigt.
Nur die talentiertesten schaffen den Sprung auf eine der privaten Wrestling-Akademien. Der ehemalige Champion Mbaye Guèye hat am Stadtrand aus seinem Haus ein Fitnessstudio für Wrestler gemacht, gekämpft wird auf einer Sanddüne neben der Autobahn. „Natürlich ermutigen wir unsere Kämpfer zur Schule zu gehen und einen Beruf zu erlernen“, sagt der Chef-Trainer der Akademie, Becaye Diouf, „aber es ist schwierig, nur wer sich komplett auf den Sport konzentriert, hat eine Chance.“
Seine Schützlinge stehen um vier Uhr morgens auf, trainieren für drei Stunden im Sand, gehen um 9 Uhr ins Fitnessstudio, am frühen Nachmittag noch eine Konditionseinheit im Sand, zwischen 17 und 19 Uhr kämpfen sie dann gegeneinander. Jeden Tag geht das so. „Hygiene ist wichtig, voller Einsatz beim Training, keine Frauengeschichten“, erklärt Diouf die Prinzipien der Akademie. Geld verlangt die Schule nicht. Dafür kassiert sie, weit lukrativer, ein Zehntel der Kampfbörsen.
Mandione glaubt, dass er es noch einmal zurück an die Spitze schaffen wird. „Ich werde meinen Zenit erst mit 40 erreichen“, sagt er, dabei geht bei den meisten spätestens ab 35 die Leistungskurve nach unten. Seit einiger Zeit überlegt er, sein Glück im Ausland zu versuchen. Einige ehemalige Stars des Landes haben es in Rugby-Teams in Japan und Frankreich geschafft.
Diese Hoffnung treibt auch viele an, die anders als der „Löwe von Thiaroye“ nicht die Mittel und Erfahrung haben, sich um ein Visum zu bemühen oder vom Ringkampf zu leben. Vor einigen Wochen brach Ali Mbengu aus dem Nachbarland Gambia illegal in Richtung Europa auf, der 22-Jährige hatte sich als „Mille Franc“ (1000 Franc) in der Wrestlingszene einen Namen gemacht. Sein Boot kenterte vor der Küste Italiens. Der junge Sportler ertrank.