Für Afrika beginnen entscheidende Jahre
Egal wie sehr sich Europa von Afrika abzuschotten versucht, die Schicksale beider Kontinente bleiben verknüpft. Der Blick muss dabei über die Migrationskrise hinausgehen – und er weckt durchaus Hoffnung
Von Christian Putsch
Vor einigen Wochen hat Äthiopiens junger Premierminister Abiy Ahmed eine inspirierende Rede gehalten: „Stellt euch den Fortschritt vor, wenn wir stärkere Institutionen bauen. Stellt euch den Fortschritt vor, wenn wir alle negativen Energien begraben. Stellt euch den Fortschritt vor, wenn wir das Leben der Menschen verbessern. Stellt euch vor, wie Afrika im Jahr 2030 ausschauen wird.“
Das eigentlich Bemerkenswerte war, dass es sich anders als bei manch anderem rhetorisch begabten Politiker der Region nicht um Lippenbekenntnisse handelte. Seine Taten haben zuletzt bewiesen, wieviel Fortschritt in kurzer Zeit möglich ist: die Freilassung Hunderter politischer Gefangener, Schritte der Wirtschaftsliberalisierung, rasant bewegt Abiy Äthiopien dem Frieden mit Eritrea entgegen. Er regiert seit vier Monaten.
Afrika braucht mehr Politiker wie ihn. Mit Vision und Kraft. Ohne Zögern und Vergeltungsrhetorik. Politiker, die realisieren, dass die Regierung mindestens so sehr in schmucklose betriebliche Ausbildungssysteme investieren muss wie in die prestigereiche Universitätsbildung. Möglichst so jung wie Abiy, mit 41 Jahren der jüngste Präsident in Afrika, wo das Durchschnittsalter der Staatsoberhäupter mit 65 Jahren rund 45 Jahre höher als das der Bevölkerung ist.
Afrika hat während der vergangenen Jahrzehnte beachtliche, aber nicht ausreichende Erfolge bei Lebenserwartung, Demokratisierung und Bildungszugang verzeichnet. Im Zeitalter der vierten industriellen Revolution kann es sich der Kontinent nun weniger als jeder andere leisten, Zeit zu verlieren. Er ist der letzte mit enormem Bevölkerungswachstum (2,52 Prozent pro Jahr, Asien und Lateinamerika folgen mit rund einem Prozent), hat aber gleichzeitig die geringste Job-Absorptionsrate für seine Jugend – nicht zuletzt Ergebnis mangelnder Investitionen in Hilfsmaßnahmen zur Familienplanung, vielerorts weiter ein politisches und gesellschaftliches Tabu.
Skeptiker glauben, dass die weltweite Technologisierung in Afrika langfristig mehr Verlierer als Gewinner hervorbringen wird. Lernfähige Maschinen und Automatisierungsprozesse würden vor allem in Ländern mit eher niedrigem Ausbildungsniveau zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Global, so eine der Kalkulationen, seien langfristig bis zu zwei Drittel der Jobs im Niedriglohnsektor bedroht. Davon gibt es in Afrika überproportional viele. Optimisten halten dagegen, dass gerade die neuen Technologien helfen werden, das nötige Tempo bei Infrastruktur und Bildung hinzulegen. Das Wort „Leapfrogging“, das Überspringen von ganzen Entwicklungsstufen, hat Hochkonjunktur.
Für beide Perspektiven gibt es gute Argumente. Unstrittig ist, dass die Zeit eilt. Besonders bei der oft überfälligen Modernisierung der Landwirtschaft, die zwei Drittel der afrikanischen Bevölkerung Arbeit gibt. In vielen Wirtschaftszweigen hat Afrika zunächst aufgrund des niedrigen Lohnniveaus rund ein Jahrzehnt länger Zeit als andere Kontinente, bis die automatisierte Produktion im größeren Stil Arbeitsplätze vernichten wird, hat die britische Denkfabrik Overseas Development Institute (ODI) errechnet.
Schon das macht die von afrikanischen Politikern oft heraufbeschworene Wiederholung des Wirtschaftswunders asiatischer Länder während des späten 20. Jahrhunderts unrealistisch. Es kann nur um kleinere Ziele gehen. Die politische Elite muss ein enges Zeitfenster nutzen, um kurzfristig möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen – und gleichzeitig umgehend dringend erforderliche Reformen einleiten, um den Kontinent für die Zukunft konkurrenzfähig zu machen. Beides ist möglich, aber nicht oft genug in Sichtweite.
Selbst dem ignorantesten Rechtspopulisten dürfte bewusst sein, dass die Schicksale Afrikas und Europas schon aus sicherheitspolitischen Gründen verknüpft bleiben. Die EU verhandelt Rückführungsabkommen und mögliche Asylzentren auf dem Kontinent, um die Migrationsströme weiter zu reduzieren. Das ist zäh genug, doch die Beseitigung der Fluchtursachen ist die ungleich größere Aufgabe. Und der nötige Nachdruck fehlt.
All das macht den Kontinent auch für die mediale Beobachtung zur außerordentlich relevanten Region. Wohl nie war es so wichtig, die Entwicklung der Region kritisch zu begleiten, aber auch Positiventwicklungen aufzuzeigen. Es ist keine Floskel: Die Migrationskrise entscheidet sich nicht an den Grenzen Europas. Sondern in Afrika. Und das sehr bald.