Christian Putsch

Das islamische Land, das Prostitution erlaubt

Christian Putsch
Das islamische Land, das Prostitution erlaubt

Der Senegal erlaubt Prostitution und kontrolliert sie staatlich – beides ist eine absolute Ausnahme in Afrika und der Islamischen Welt, wo käuflicher Sex meist nur in tabuisierten Schattenzonen möglich ist. Die HIV-Rate liegt auch deshalb im Senegal so niedrig wie fast nirgends auf dem Kontinent. Eine ehemalige Prostituierte sieht dennoch dringenden Verbesserungsbedarf

Auf dem Boden liegt eine fleckige Matratze, in der Ecke flimmert ein Fernseher, daneben bekämpft ein müder Ventilator die Hitze. Putz blättert von den blauen Wänden, die Tür ist aus ein paar morschen Brettern zusammengezimmert, man hört das alltägliche Verkehrschaos von Senegals Hauptstadt Dakar. Khadija, 53, zieht noch einmal an ihrer Zigarette. Es ist die dritte im Laufe der letzten halben Stunde. Es macht sie nervös, über ihre Arbeit zu reflektieren.

Jahrzehntelang hat Khadija hier angeschafft, manchmal vier Freier in einer Nacht. Vor einigen Jahren hat sie den Absprung geschafft, als Sozialarbeiterin versucht sie nun alles, um die jungen Frauen in den umliegenden Zimmern gesund zu halten. Wegziehen kam nie in Frage: „Ich fühle mich den Mädchen verbunden“, sagt Khadija, „und ich habe kein Geld, um mir etwas Besseres zu leisten.“

Jeder in der Nachbarschaft kennt diesen Hinterhof, in dem rund ein Dutzend Prostituierte praktizieren. Eine davon ist Bineta. Ab und zu kommt sie auf einen Tee bei Khadija vorbei, die beiden Frauen schauen dann zusammen fern, rauchen, reden, schweigen. Was immer das Gemüt gerade am dringendsten braucht. Auch jetzt ist sie da. Um über ihren Beruf zu reden. Und über die Frage, ob der Senegal wirklich so musterhaft im Umgang mit dem Tabuthema ist – unter der Bedingung, dass die richtigen Namen beider Frauen nicht genannt werden.

Das Land im Westen Afrikas hat in dieser Hinsicht einen vorbildlichen Ruf. Prostitution ist im Senegal legal und staatlich reglementiert. Wer über 21 Jahre alt ist und monatliche Gesundheitsuntersuchungen nachweisen kann, den lässt die Polizei gewähren. Im Krankenhaus werden kostenlos 100 Kondome pro Monat zur Verfügung gestellt – gehen sie aus, gibt es beliebig Nachschub. Auch Kunden und Betreiber von Bordellen bleiben in der Praxis unbestraft, obwohl diese sich wiederum offiziell strafbar machen. Die entsprechenden Verbote werden nicht implementiert.

In der islamischen Welt sind Länder mit behördlich geregeltem Umgang mit Prostitution, wie der Senegal, die Türkei oder Bangladesch, in der Minderheit. Im Iran etwa kann gewerblicher Sex die Todesstrafe zur Folge haben. In Afghanistan beträgt die Maximalstrafe 15 Jahre Gefängnis. In Saudi-Arabien drohen Auspeitschung, mehrjährige Haft und – im Falle einer ausländischen Staatsbürgerschaft – die Ausweisung. In Ägypten sind drei Jahre in Gefangenschaft möglich.

Die Gründe, warum Senegals Verfahrensweise auch im regionalen Vergleich derart liberal ist, sind geschichtlich begründet. Die einstige Kolonialmacht Frankreich hat schon unter der Herrschaft von Napoléon Bonaparte vor über 200 Jahren in Paris die ersten Pflichtuntersuchungen von Prostituierten veranlasst, um eine damals herrschenden Syphilis-Epidemie zu bekämpfen. Entsprechend strenge Regelungen wurden auch in den Gesetzen der Kolonien verankert – und bisweilen für die Frauen entwürdigend umgesetzt. Es gab Länder, in denen sich alleinstehende Frauen vor der Reise in Städte im Schambereich untersuchen lassen mussten.

Auch wegen solcher Praktiken wurden auch die sinnvollen Aspekte derartiger Gesetze nach dem Ende des Kolonialismus fast in allen ehemaligen französischen Kolonien kategorisch abgeschafft. Der Senegal aber hielt an den Paragraphen fest und baute die Versorgung der Prostituierten sogar noch aus. 1969 wurde die regelmäßige Untersuchung der Sex-Arbeiterinnen als Voraussetzung für die Legalisierung ein. Das ist überwiegend auf die Politik eines einzelnen Mannes zurückzuführen. Der damalige Präsident Léopold Sédar Senghor galt als Paris-nah – und er war Katholik. 

Seine progressive Politik erwies sich Jahrzehnte später während der Ausbreitung der HIV-Epidemie als Glücksfall. Nach UN-Angaben sind nur sieben Prozent der rund 20.000 Prostituierten im Senegal mit dem Virus infiziert, das auf Geschlechtskrankheiten spezialisierte Krankenhaus „Polyclinique“ in Dakar nennt die Zahl von 6,6 Prozent. Der niedrige Anteil ist wohl einer der Gründe, warum sich mit 0,4 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 49 Jahren relativ wenig Menschen angesteckt haben – ein Bruchteil der Infektionsraten anderer Staaten des Kontinents. In Südafrika sind es erschreckende 20,4 Prozent.

Im afrikanischen Durchschnitt trugen im Jahr 2012, als die UN die letzte größere Studie zum Thema in Auftrag gab, deutlich über ein Drittel der Sex-Arbeiterinnen (37 Prozent) das Virus in sich. Sie gelten als wichtiger Faktor für die Verbreitung. Zum einen natürlich, weil sie eine Vielzahl von Sexualpartnern haben. Zum anderen aber auch, weil der Umgang mit ihnen ein Indikator für die Ernsthaftigkeit der Behörden im Kampf gegen die HIV-Epidemie ist. Prostituierte gelten als einer der wichtigsten Faktoren für die Verbreitung des Virus. Ihr Schicksal zu ignorieren, ist schon alleine deshalb nicht zu verantworten.

In Khadijas ehemaligem Bordellzimmer kommen leise Zweifel ob dieser Ernsthaftigkeit auf. Bineta erzählt vom Vorabend, als die Polizei mal wieder die Räume durchsucht hat. „Sie haben uns gedroht, haben immer wieder nach den Ausweisen gefragt“, erzählt sie. Laut Gesetz reicht es, seine „Carnet Sanitaire“ vorzuzeigen, eine hellgrüne Gesundheitskarte in Führerscheingröße. Sofern seit dem letzten Gesundheitscheck nicht mehr als ein Monat und dem letzten HIV-Test nicht mehr als ein halbes Jahr vergangen ist, müssen die Frauen laut Gesetz in Ruhe gelassen werden. „Unter dem Tisch findet trotzdem Korruption statt“, erzählt Bineta, „wer nicht zahlt, bekommt Probleme.“

Khadija nickt. Sie begleitet das Programm seit Jahren als Vorstandsmitglied der Prostituiertenvereinigung „Association for Women at risk from AIDS“ (AWA). Klar, die Gesetzgebung sei besser als in vielen anderen Ländern, aber Khadija wird nicht müde, die Versäumnisse zu betonen. Die Polizei müsse noch besser kontrolliert werden, auch fehle es an Strafverfolgung für gewalttätige Kunden. Und wegen des mit 21 Jahren hohen Mindestalters für das Programm würden viele junge Prostituierte durch das Raster fallen. Mindestens jede fünfte Prostituierte ist jünger, stellte das senegalesische Gesundheitsministerium in einer Studie aus dem Jahr 2002 selbst fest.

„Das ist doch ein Wahnsinn, dass an den Krankenhäusern 18 Jahre alte Prostituierte abgewiesen werden“, sagt Khadija. Für infizierte Frauen sei es dann schwieriger, die entsprechenden antiretroviralen Medikamente zu bekommen. Und die Tatsache, dass es auch männliche Prostituierte gebe, werde weitgehend übersehen.

Beide Frauen begannen erst mit Mitte 20 mit dem Job. Sie hatten lediglich die Koranschule besucht. Khadija hatte nach einer gescheiterten Verlobung nicht genug Geld, um ihre beiden Töchter zu ernähren. Und auch Bineta verkaufte eines Tages ihren Körper anstelle von Gemüse – es brachte mehr ein. Jetzt kommt sie an guten Tagen auf umgerechnet 25 Euro. In Dakar, einer der teuersten Städte Afrikas, ist das nicht viel. Kinder hat Bineta nicht. Zu teuer, sagt sie. Und es fehlt der Glaube, einen anderen Job zu finden.

Beide sind seit Jahren registriert – und damit eine Minderheit unter den Prostituierten. Die Behörden gehen von 45 Prozent aus, die behördlich bekannt sind. Warum das so ist, erfährt man im Krankenhaus „Polyclinique“. Auf einem Flur sitzen junge Frauen auf einer Holzbank. Die Ärzte haben vorher angewiesen, niemanden auf den Beruf anzusprechen. Für viele Prostituierte ist der Weg zur Klink eine große Überwindung.

Denn wer sich hier seine „Carnet Sanitaire“ abstempeln lässt, der offenbart seine Profession – und nährt, wenn man gesehen wird, Gerüchte zum eigenen HIV-Status. Diese Themen sind im Senegal trotz des offenen Umgangs der Behörden alles andere als gesellschaftsfähig. Einige lassen ihr Gesundheitsbuch gar im Krankenhaus aufbewahren, wenn sie einige Wochen lang nicht arbeiten – die Angst, dass das Büchlein zu Hause entdeckt wird, ist groß. 35 Frauen lassen sich am Tag untersuchen, vor Festivals und Feiertagen mehr, am Ende des Monats – wenn die Freier kein Geld haben – weniger.

Gesundheitsbuch “Carnet Sanitaire“

Gesundheitsbuch “Carnet Sanitaire“

„Wir haben große Fortschritte gemacht“, sagt Alassane Moussa Niang, einer der Ärzte, und verweist auf die deutlich gesunkenen HIV-Infektionsraten. Er ist auch stolz auf Besuche von Regierungsmitarbeitern aus Mali, Liberia und Kamerun, die einige Elemente der senegalesischen HIV-Politik übernehmen wollen. Mali hat nach entsprechenden Gesprächen begonnen, mobile Kliniken in ländliche Gegenden zu schicken, um auch dort Prostituierte zu erreichen.

Doch auch im Senegal sieht Niang noch gewaltige Probleme. „Wir müssen das HIV-Stigma in den Griff bekommen, es hält viele fern“, sagt er. Die Zahl von 14 auf Geschlechtskrankheiten spezialisierte Krankenhäuser im Senegal sei viel zu gering – das Land hat 16 Millionen Einwohner. Und auch beim Mindestalter von 21 Jahren für Prostituierte sieht er Handlungsbedarf, es müsse auf 18 herabgesetzt werden.

Arzt Alassane Moussa Niang

Arzt Alassane Moussa Niang

In ihrer Hütte zieht Khadija zum Abschied an der nächsten Zigarette. „Meinen Namen veröffentlichst Du nicht“, vergewissert sie sich, „und keines der Fotos zeigt mein Gesicht, oder?“ Sie schämt sich für den Job, den sie so lange ausgeübt hat. Und sie ärgert sich über die Regierung. Die protzt zwar derzeit mit Wachstumszahlen von jährlich sieben Prozent, trotzdem finden viele der Frauen keine alternative Beschäftigung.

„Erst wenn sich das ändert“, sagt die ehemalige Prostituierte, „macht diese Regierung eine gute Politik.“