Christian Putsch

Der Covid-Jäger

Christian Putsch
Der Covid-Jäger

Ein Besuch beim Entdecker der neuen Covid-Variante. Tulio de Oliveira erklärt, was die Mutation so gefährlich macht

Durban - Tulio de Oliveira kann sich noch gut an den Anruf vom 2. November erinnern. Ein Arzt der südafrikanischen Ostkap-Provinz berichtete dem Direktor des Forschungslabors Krisp in Durban von einem merklichen Anstieg von Covid-Infektionen in der dörflichen Gegend. Das könne was mit den deutschen Autounternehmen zu tun haben, die in der Region produzieren; schließlich reisten deren Angestellte ein und aus, so die Hypothese des Anrufers. Denn Deutschland war damals mit 25.000 Neuinfektionen am Tag schon mitten in der zweiten Welle, während die Situation in Südafrika mit täglic etwa 1500 noch vergleichsweise ruhig war.

„Da wird wieder Panik geschoben“, war de Oliveiras erster Gedanke. Doch dann machte er ein paar Anrufe, und einige der renommiertesten Mediziner des Ostkaps berichteten von einer erschreckend schnellen Verbreitung von Infektionen in den Krankenhäusern. De Oliveira reagierte sofort.

Schnell ging der Forscher aus seinem Labor in das 50 Meter weiter gelegene Büro von Salim Karim, dem wichtigsten Covid-Berater der Regierung und als bekanntester Virologe des Landes so etwas wie der Christian Drosten Südafrikas. Die Region um Durban ist eines der weltweiten Epizentren im Kampf gegen HIV und Tuberkulose, international anerkannte Epidemiologen wie de Oliveira und Karim forschen hier seit Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft auf dem gleichen Uni-Campus.

Diese Nähe hilft beim Kampf gegen die Covid-Pandemie sehr. Binnen weniger Tage wurden Genome von Patienten aus 15 Kliniken analysiert. Teilweise lagen sie Hunderte Kilometer auseinander, doch in fast jeder Probe fand sich die gleiche, ungewöhnlich hohe Zahl von Mutanten. Schnell suchten Labore in allen südafrikanischen Provinzen nach der neuen Variante – und fanden sie.

Drei Monate nach dem Anruf verursacht die von de Oliveiras Team entdeckte Variante, die in Fachkreisen mit den Kürzeln B1.351 oder 501Y.V2 bezeichnet wird, weltweit enorme Sorgen imKampf gegen das Coronavirus. Sie ist bisher in mehr als 20 Ländern nachgewiesen worden, darunter auch Deutschland. Am Sonntag letzter Woche gab Südafrika bekannt, von einem geplanten Impfprogramm mit dem AstraZeneca-Impfstoff vorerst abzusehen. Eine Studie mit 2000 Teilnehmern hatte ergeben, dass das Präparat nur „minimalen Schutz“ vor „milden bis moderaten“ Krankheitsverläufen biete.

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Zwar gibt es Anzeichen, dass der Impfstoff die Zahl der Todesfälle und schweren Erkrankungen deutlich reduzieren kann. Doch das reicht nicht, solange die AstraZeneca-Forscher den Stoff nicht an die neue Mutante angepasst haben. Der AstraZeneca-Impfstoff war besonders für Entwicklungs- und Schwellenländer empfohlen worden, weil Transport, Lagerung und Verteilung als preiswerter und einfacher gelten. Südafrika hofft nun, noch bis zum Wochenende die ersten Dosen vom Impfpräparat des Herstellers „Johnson & Johnson“ zu bekommen, das offenbar deutlich besser gegen die Mutante wirkt.

De Oliveira trägt Pferdeschwanz, mit raschem Schritt und dem Akzent seines Geburtslands Brasiliens bittet er zum Interview nach draußen, in den Vorhof. Der Vater von drei Kindern will sich und seine Familie schützen und er will seine Arbeit auch nicht einen Tag wegen einer Infektion liegen lassen. Die neue Mutation ist 50 Prozent ansteckender. In den vergangenen Wochen tötete das Virus zwei berühmte Mediziner im Nachbarland Simbabwe, wo die neue Variante ebenfalls wütet. „Für so ein strukturschwaches Land ist das ein schwerer Schlag“, sagt de Oliveira betroffen.

Die schnelle Verbreitung des Virus gehört zu den größten Sorgen de Oliveiras. „Wenn mehr Menschen in Ländern wie Simbabwe oder Malawi krank werden, überlastet das die Gesundheitssysteme noch schneller als ohnehin schon“, sagt der Wissenschaftler. Zudem sorgt die Mutation an Position E484K des Spike-Proteins dafür, dass nicht nur Geimpfte weniger geschützt sind, sondern auch Patienten, die während der ersten Infektionswelle infiziert worden waren und sich lange für immun hielten.

Doch führt die Mutation auch öfter zum Tod? „Auf den ersten Blick scheint es nicht so“, sagt de Oliveira, und nimmt in sicherer Entfernung seine Maske für einen Schluck Kaffee ab. „Aber die Sterblichkeit hatte im Laufe der ersten Welle abgenommen, weil man mehr über die Behandlungsmethoden lernte. Jetzt ist die Sterblichkeit trotz dieses Wissens auf dem Niveau des Mittelwerts der ersten Welle – also könnte B1.351 gefährlicher sein.“ Zudem treibt schlicht die Überfüllung von Krankenhäusern die Todeszahlen weiter nach oben. Gerade wurde eine Studie zur Übersterblichkeit in Sambia veröffentlicht, der zufolge die Dunkelziffer deutlich höher sein könnte als bislang angenommen.

Südafrika verzeichnete von Anfang November bis Anfang Januar einen rasanten Anstieg der täglichen Neuinfektionen von rund 1500 auf bis zu 22.000. Seitdem fallen die Zahlen ähnlich schnell, der 7-Tage-Mittelwert liegt aktuell bei 3200. Die Gründe sind auch unter Forschern umstritten. Nach der ersten Welle waren einige Forscher noch von einer Herdenimmunität für die sinkenden Zahlen ausgegangen. Doch diesmal, glaubt de Oliveira, sei der Rückgang eher eine Folge von Restriktionen und höherer Disziplin der Menschen.

Die meisten Infektionen seien in den Tagen vor Weihnachten erfolgt, danach waren wegen längerer Ferien in Südafrika Schulen und viele Firmen geschlossen, zudem wurde das öffentliche Leben weiter eingeschränkt. „Das alles hatte einen Effekt“, sagt de Oliveira. „Der entscheidende Faktor ist aber, dass inzwischen jeder jemanden kennt, der im Krankenhaus war oder sogar gestorben ist.“ Erst mit dieser unmittelbaren Erfahrung, sagt der Professor, würden sich viele an die Vorgaben und Empfehlungen von Regierung und Forschern halten.

Während Südafrikas Politik zurecht für die Korruption beim Covid-Rettungsschirm und verspätetes Bemühen um Impfstoffe kritisiert wurde, gilt immerhin die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft als vorbildlich. Ergebnisse werden transparent und zeitnah kommuniziert und Empfehlungen prägten lange politische Entscheidungen, wenngleich zuletzt auch immer mehr die Einsicht einfloss, dass die Nation finanziell zu klamm für einen weiteren strikten Lockdown ist. „Es hätte besser, aber auch viel, viel schlechter laufen können“, sagt de Oliveira. „Auch wir Forscher hätten uns in unseren wildesten Träumen nicht eine derartig große zweite Welle vorstellen können.“

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Labore wie seines zeigen, wie ernst das Land in den vergangenen Jahren die Bekämpfung der HIV- und Tuberkulose-Epidemie genommen hat. Das Kwazulu-Natal Zentrum für Forschung, Innovation und Sequenzierung, kurz Krisp, wurde 2017 gegründet. Mitfinanziert vom Wissenschaftsministerium arbeiten hier 18 Wissenschaftler mit Millionen teuren Geräten an der Aufschlüsselung von Genomen zur Verbesserung von Heilmethoden.

Auch wegen dieser Infrastruktur werden in Südafrika deutlich mehr Genome sequenziert als in vielen Industrienationen. Hunderte Covid-Proben können gleichzeitig entschlüsselt und auf Mutationen geprüft werden. Viele Proben stammen aus anderen Ländern Afrikas, wo solche Labore fehlen. Derzeit enthalten etwa 90 Prozent der Proben die neue Variante. 

De Oliveira ist fast fertig mit seinem Kaffee. Er lasse sich nicht entmutigen, sagt er. Schließlich seien die Hersteller zuversichtlich, die Wirksamkeit der Impfungen gegen Mutationen wie B1.351 bald deutlich zu erhöhen. Aber er möchte noch einen wichtigen Gedanken loswerden: Es könne nicht sein, dass Südafrika für seine Entschlüsselung der neuen Variante bestraft werde, etwa mit Einreiseverboten für seine Bürger in anderen Ländern, während sich die reichen Nationen das Gros der Impfstoffe sicherten. In Afrika sind auf absehbare Zeit nur wenige Impfungen in Sicht.

„Natürlich braucht es Schutzmaßnahmen, aber wir müssen von diesem Covid-Nationalismus weg, diesen gegenseitigen Schuldzuweisungen“, sagt er, „und wir müssen aufpassen, dass Länder nicht entmutigt werden, derartige Genom-Sequenzierungen vorzunehmen.“ Dieses Problem lasse sich nur als globale Gemeinschaft lösen. „Wir erleben da gerade einen gewaltigen Weckruf.“ Spricht’s und geht in sein Labor. Zurück an die Arbeit.