Christian Putsch

Gestern Terrorist, heute Nachbar

Christian Putsch
Gestern Terrorist, heute Nachbar

Wohin mit Tausenden Terroristen? Im Kampf gegen die Islamisten von Boko Haram setzt Nigeria auf ein beispielloses Amnestieprogramm – und erwartet von den Opfern, wieder Tür an Tür mit den Tätern zu leben. Das Programm hat zentrale Kommandanten zur Aufgabe bewegt, die neue Einblicke in die Terrorfinanzierung geben. Doch das gegenseitige Misstrauen ist groß.

Das Kopfgeld, das sie auf ihn ausgesetzt haben, raubt dem ehemaligen Terroristen den Schlaf. Die Nächte verbringt Mallam Bana Musa’id mit Gebeten. Auf dem rechten Ohr ist die ehemalige Nummer vier in der Hierarchie der nigerianischen Islamistengruppe Boko Haram taub, Folge eines knapp überlebten Granateneinschlags. Das linke aber horcht in die Dunkelheit des Lagers, in dem er seit sechs Monaten deradikalisiert wird. Sind das wie er wirklich allesamt Aussteiger, die hier am Rande der Millionenstadt Maiduguri untergebracht sind? Oder hat es jemand auf sein Leben abgesehen?

Wer ein Foto seines toten Körpers zusammen mit seinem Handy als Beleg abliefert, bekommt sechs Millionen Naira ausgezahlt, umgerechnet rund 12.000 Euro. So hat es Boko Haram verkündet, nachdem Musa’id im Radio und über die sozialen Medien dazu aufgerufen hat, die Waffen niederzulegen. Der ehemalige Terrorist ist damit als Verräter selbst ins Visier der Terroristen geraten.

Boko Haram hat 35.000 Menschen im Nordosten des Landes getötet, 314.000 starben an den indirekten Folgen wie Ernteausfall und Wassermangel, 1,8 Millionen wurden vertrieben – und gehört damit zu den vier weltweit tödlichsten Terrororganisationen der vergangenen Jahre. Und im Fokus des Kampfes steht mehr denn je die Amnestie. Ein denkbar umstrittenes Projekt, dessen Dimension Aussteigerprogramme für Milizen in Sri Lanka, Somalia oder im Niger Delta weit übersteigt. Für „geringriskante“ Handlanger und Familienangehörige gibt es diese Option schon länger. Doch zuletzt wurde sie, zunächst heimlich, über das Programm „Suhlu“ (arabisch Versöhnung) auch auf hochkarätige ehemalige Drahtzieher wie Musa’id ausgeweitet. Sie sollen in Siedlungen reintegriert werden, die sie jahrelang tyrannisiert haben. Mein Nachbar, der – hoffentlich deradikalisierte – Terrorist.

Es ist Nachmittag und Musa’id bereit zu einem ersten Treffen. Er steht vor dem Camp in Maiduguri, die Soldaten haben ihn rausgelassen, ganz klar ist das nie. Ein schlanker Mann, der wie fast alle hier Kaftan-Umhang und traditionelle Hausa-Mütze trägt. Das Gesicht ist faltenlos, nur der graue Bart deutet auf sein Alter von 52 Jahren hin. Der Islamist, der den Justiz-Sektor des Boko-Haram-Kalifats und Hunderte Hinrichtungen organisierte, könnte kaum unscheinbarer sein.

Ein Mittelsmann hat einen Hinterhof für das Interview arrangiert. Schweigen während der Fahrt. Auf dem Smartphone schaut Musa‘id BBC-Nachrichten – über die TikTok-App. Dann erzählt er im Schatten schützender Mauern Grauenhaftes. Es geht um seine Radikalisierung, Plünderungen, Entführungen, Amputationen, Geldflüsse und auch seine wachsenden Zweifel an Boko Haram. Wie aus ihm, einem Verkäufer von Kosmetik-Artikeln, ein Massenmörder wird. Und wie aus dem Massenmörder jetzt wieder ein gewöhnlicher Verkäufer werden soll.

Musa’id gehört zu den ersten Anhängern von Boko-Haram-Gründer Ustaz Mohammed Yusuf, schließt sich im Jahr 2008 an, weil ihn erzürnt, dass die Gerichte oft die staatlichen Gesetze anwenden, anstatt die parallel geltenden islamischen Gesetze der Scharia umzusetzen. Er erzählt von einem Massaker der Polizei im Jahr 2009, 20 Islamisten wurden getötet, später auch Yusuf in Polizeigewahrsam. „Von da an war klar, dass wir angreifen, um uns zu verteidigen“, sagt Musa’id.

Kaum einer beherrscht die Koranverse so lückenlos, was seinen rasanten Aufstieg begünstigt. Die ersten Waffen kaufen die Terroristen im Nachbarland Tschad. Genug für die ersten Plünderungen von Polizei- und Armeestützpunkten und damit den Ausbau des Waffenarsenals. Dorf für Dorf wird unter Kontrolle gebracht, im Jahr 2015 beherrscht das auf rund 12.000 angewachsene Islamisten-Heer ein Gebiet der Fläche Belgiens.

Und Musa‘id verwaltet weite Teile der Justiz, ist Bindeglied zwischen Scharia-Richtern und dem damaligen Boko-Haram-Anführer Abubakar Shekau. Jedes Todesurteil trägt er ihm vor, von seiner Bewertung hängt ab, ob Shekau eine Begnadigung ausspricht. Dazu kommt es selten, das gleiche gilt für die Amputationen: beim ersten größeren Diebstahl die Hand, beim zweiten das Bein. Die Dorf-Plünderungen von Boko Haram werden freilich nicht bestraft. Die Kämpfer bekommen keinen Grundlohn, dürfen dafür Teile des Diebesguts behalten. Musa’id kommen angesichts der zunehmend zügellosen Verbrechen gegen die Zivilisten erste Zweifel.

Doch er macht weiter mit. Beachtliche eineinhalb Millionen Dollar Jahresbudget hat er für den Justizsektor. Die Bauern müssen ein Zehntel ihrer Einnahmen abtreten, die Fulani-Hirten umgerechnet zwei Dollar Wegegeld pro Rind. Dazu das Geld des Islamischen Staates (IS). 2015 schwört Shekau Abu Bakr al-Baghdad die Treue. Beide Männer schmieden damals Pläne für einen Besuch des damaligen IS-Chef im nigerianischen Kalifat, erzählt Musa’id – sobald der Flughafen von Maiduguri unter Kontrolle sei.

Shekau weicht die Beziehung im Laufe der Jahre etwas auf, will die Kontrolle nicht vollständig an al-Baghdad abtreten. Es habe keine personelle Unterstützung des IS in Nigeria gegeben, sagt Musa’id. Finanzielle aber sehr wohl, und das verwobener als bislang bekannt. Die Zahlungen seien an nigerianische Geschäftsleute in Libyen geflossen. Die von dem Geld erworbenen Waren seien legal nach Nigeria exportiert worden, der Verkaufserlös landete schließlich auf Konten der Boko-Haram-Anführer.

Auch an der Entführung von 276 christlichen Schülerinnen aus der Stadt Chibok im Jahr 2014 ist Musa’id beteiligt, organisiert 17 Fahrzeuge für den Transport. Das Verbrechen sorgt für eine weltweite Welle der Empörung. „Wir wollten die Regierung zwingen, alle Schulen zu schließen.“ Boko Haram lässt sich mit „Westliche Bildung ist eine Sünde“ übersetzen. Neben moderaten Imamen und Sicherheitskräften sind Lehrer das wichtigste Anschlagsziel.

In den vergangenen Jahren wurden aus den Zweifeln bei Musa’id immer konkretere Fluchtpläne. Heute sagt er, die Bewegung habe sich „in eine andere Richtung bewegt, als wir ursprünglich geplant hatten“. Er spricht von „vielen Gräueltaten“, die er nicht mehr mittragen wollte. „Ohne Frieden kann keine Religion florieren“, sagt Musa’id, und man fragt sich, warum diese Einsicht, falls sie denn aufrichtig ist, nicht früher kam.

Eine Rolle wird gespielt haben, dass erst die jahrelangen Verhandlungen zur Freilassung der Chibok-Mädchen Basis für die Entstehung der Aussteigerprogramme waren. Aber auch, dass Nigerias Luftwaffe mit Unterstützung der USA die Luftangriffe in den vergangenen Jahren intensivierte. Zeitgleich spaltete sich Boko Haram. Der Ableger Islamic State of West Africa Province (ISWAP) bekämpft die Shekau-Fraktion, der Musa’id angehörte. Vor zwei Jahren sprengte sich Shekau in die Luft, als er von ISWAP eingekesselt worden war.

„Ich habe die Explosion gehört und wusste, was das bedeutete“, sagt Musa’id. Bislang ist keines seiner 19 Kinder getötet worden, auch die vier Ehefrauen blieben unversehrt. Der Terrorist ahnt, dass sich das bald ändern würde. Als die Luftwaffe anstelle von Bomben Flugblätter mit Informationen zum Ausstiegprogramm abwirft, sieht er das als „Möglichkeit, die ich mit beiden Händen greifen muss“. Er schickt einen rangniedrigen Kämpfer, den sie „der Kleine“ nennen, ein Testbalon, auch, weil es Berichte zu katastrophalen Bedingungen in einigen Deradikalisierungslagern gibt. Als „der Kleine“ berichtet, dass die Armee ihre Versprechen hält, kommt Musa’id mit seinen Leuten aus dem Busch. Er habe, so behauptet er, Tausende Boko-Haram-Kämpfer zur Aufgabe bewegt.

Insgesamt haben sich rund 6000 aktive Islamisten gestellt. Musa’id glaubt, dass weitere 6000 noch immer aktiv sind. Genau weiß das niemand. Ein anderer ehemaliger Boko-Haram-Kommandant geht von maximal 3000 aus. Bei ISWAP sind es wohl 2000, von denen nur wenige ausgestiegen sind – sie sind für den Großteil der aktuellen Anschläge verantwortlich, füllen die IS-Propagandamedien wie kaum ein anderer Ableger weltweit.

Es wird dunkel und Musa’id nervös, wie an jedem Abend. Zeit für die Rückfahrt, aber man könne an einem der kommenden Nachmittage weiterreden. Zeit, sich bei anderen zum Amnestieprogramm umzuhören. Vertriebene schildern, wie sie nun in Sichtweite von Terroristen Felder bestellen, die ihnen von der Regierung zur Verfügung gestellt worden sind. Man akzeptiere das vorerst, weil der Wunsch nach Frieden über allem stehe. Ein Dozent der örtlichen Universität berichtet, dass es enormen Widerstand gebe, viele Boko-Haram-Kämpfer vertrieben worden seien. Ein Schullehrer erzählt, wie es unter Waisenkindern zu einer Prügelei gekommen sei, als bekannt wurde, dass der eine getötete Vater Soldat war – und der andere Boko Haram Terrorist.

Und es gibt weiter eiserne Amnestiegegner wie Abba Aji Kalli, der immer noch mit einer Schrotflinte neben der Matratze schläft, weil er weiter Morddrohungen von Boko Haram bekommt. Er führte lange die Bürgerwehr „Civilian Joint Task Force“ (CJTF) an, die zur Schwächung der Terroristen beigetragen hat. Über Tausend seiner Leute hätten das „größte Opfer gebracht“, sagt er. Er erinnert sich an jeden der Tage, wenn er Leichen zu Angehörigen brachte.

„Das kann man nicht einfach mit zwei oder drei Monaten Deradikalisierung ungeschehen machen“, sagt Kalli. Es habe kaum Verurteilungen gegeben. Die Leute bräuchten zumindest etwas wie die Gacaca-Friedensgerichte, mit denen einst in Ruanda der Völkermord ein Stück weit aufgearbeitet wurde. Aber nicht einmal das sei versucht worden.

Schlimmer noch: Die Terroristen bekämen Geld von der Regierung, pro abgegebene Waffe umgerechnet 250 Euro, dazu monatlich 20 Euro. Die Opfer würden dagegen vergeblich auf Entschädigung warten. „Wie soll das jemand ertragen, dessen Frau getötet und dessen Tochter von Boko Haram entführt wurde?“ fragt er – und erwartet keine Antwort.

So mancher Aussteiger hat erschreckend wenig Verständnis für dieses Argument. Einer erzählt, er gebe allein für die Telefonate, mit denen er andere zur Annahme der Amnestie bewegen will, mehr aus. Und überhaupt, während seiner Zeit bei Boko Haram habe er ein Vielfaches verdient. Ein dritter behauptet, seine ehemaligen Nachbarn hätten ihm bereits verziehen. Als Imam habe er wieder bei Hochzeiten und Beerdigungen gepredigt.

Und Musa’id? Der stimmt einem zweiten Treffen zu, es findet in einem Hotel statt. Er bedauert die Mittel, betont er erneut, Fragen nach der Rolle der Scharia weicht er aus. Aber er habe Tausende zur Aufgabe bewegt, damit viel Leid vermieden und sein Leben riskiert, sagt er – mehr Zeichen der Reue könne er nicht setzen. Manchmal sei vielmehr er es, der an der Aufrichtigkeit der Regierung zweifele. Das Kopfgeld ist allgegenwärtig, er hat die Armee um eine sichere Unterkunft gebeten. Ohne Erfolg. Das macht ihn wütend.

Und auch auf der anderen Seite ist das Vertrauen in das Amnestieprogramm alles andere als stabil.

Die Regierung hat Musa’id eigentlich Bewegungsfreiheit versprochen. Doch zwei Tages später, kurz vor dem nächsten vereinbarten Treffen, sagt der ehemalige Terrorist ab. Auf einem Markt brennt es, es gibt Ausschreitungen der dortigen Händler, Verschwörungstheorien.

In solchen Situationen können alle möglichen Konflikte hochkochen, und dazu zählt die umstrittene Amnestie. Er komme nicht raus, sagt Musa’id. Kurzerhand hat die Regierung sein Camp abgeriegelt. Ausgangssperre. Auf unbestimmte Zeit.