Christian Putsch

Erdogan 2.0 in der Sahara

Christian Putsch
Erdogan 2.0 in der Sahara

Man wird nie wissen, ob es die riskante Reise von Guinea nach Algerien war, die ihn um den Verstand gebracht hat. Oder die Ausweisung dort, ausgesetzt an der Grenze zum Niger, in der Sahara-Wüste. Die Monate, in denen er seitdem auf seine Rückkehr in die Heimat gewartet hat. Vielleicht auch die Aussicht, als Verlierer zurückzukehren.

Aber jetzt liegt der junge Mann im Staub von Nigers Hauptstadt Niamey. Sechs Meter war er, nur mit kurzer Hose bekleidet, einen Strommast hochgeklettert – direkt neben dem Transitzentrum der „Internationalen Organisation für Migration“ (IOM), in dem er lebte. Am rechten Arm, mit dem er offenbar die Leitung berührte, hat er Verbrennungen. Der Guineer windet sich vor Schmerzen. Als der Verletzte abtransportiert wird, flüstert einer: „Der überlebt die Nacht nicht.“

Der Vorfall illustriert die dramatische Lage im Niger. Jahrelang war der Wüstenstaat Verbündeter Europas bei der Einschränkung illegaler Migration, versperrte westafrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen mit EU-finanzierten Patrouillen die Durchfahrt nach Libyen, verhaftete Schlepper, beschlagnahmte Geländewagen. Angela Merkel flog zweimal in den Niger, Olaf Scholz kam bei seiner ersten Afrika-Reise vorbei.

Doch seit dem Putsch im Juli und der Entmachtung von Präsident Mohamed Bazoum fallen die strategischen Rollen des Landes: als letzte demokratisch legitimierte Bastion im Kampf gegen die Terroristen der Sahelzone. Als Blockade für Migranten. Und auch bei der Organisation von deren Rückreise.

Denn fast parallel zum Putsch im Niger haben Algerien und Tunesien ihre Abschiebepraxis verschärft. Es gab Kollektivausweisung von rund 10.000 Migranten nach Niger, seitdem wurden rund 1000 monatlich rausgeworfen, in den ersten drei Oktoberwochen verzeichnete die IOM nun wieder einen rasanten Anstieg auf 2500. Die IOM-Zentren in Niger, nur als Durchgangsstation angelegt, sind um 40 Prozent überbelegt – und ihre Bewohner zunehmend verzweifelt.

Seidou Faouziath aus dem Benin zum Beispiel. Sie arbeitete als Krankenschwester in Algerien, ohne Papiere. Nach einem Jahr gab es eine Polizeikontrolle im Bus. Vier Tage auf der Wache, dann wurden sie und Hunderte andere Migranten zur Grenze zum Niger gebracht, genannt „Point Zero“. Mitten in der Sahara-Wüste.

„Sie haben mir eine Wasserflasche gegeben, dazu Kekse und Brot“, sagt Faouziath, „wir sollten einfach losgehen, wir würden die Schilder der IOM schon irgendwann sehen.“ 15 Kilometer lang ist der Marsch. Faouziath, damals zwei Monate schwanger, trat ihn in der Nacht an, überlebte. Man werde alles tun, um sie schnell zurück nach Benin zu bringen, sagte man ihr bei der Ankunft.

Doch elf Monate später sitzt die fast vollverschleierte 28-Jährige in einem Zimmer eines Transitzentrums für Frauen in Niamey. An der Wand Kindermalereien, im Regal Brettspiele. Eigentlich sollte sie am 8. August ausreisen, die Papiere waren ausgestellt. Doch dann kam der Putsch, die Grenzen sind geschlossen. Und Faouziath und ihr längst geborenes Baby hängen fest, wie so viele. „Das ist sehr frustrierend für mich“, sagt sie, „aber ich muss es akzeptieren.“

Immerhin hat sie ein Dach über dem Kopf. Denn Tausende, die ebenfalls aus Algerien ausgewiesen wurden, leben auf der Straße. Neben einem Busbahnhof in Niamey haben rund 160 Migranten aus Sierra Leone im Schatten einer Mauer Zelte aus Plastikmüll gebaut. Mit Malaria infizierte Frauen liegen auf dem Boden, eine junge Mutter gibt ihrem Baby die von einer Hautinfektion befallene Brust.

Schon vor dem Putsch war die Organisation der Rückreise nach Sierra Leone für die IOM schwierig. Das Land hat keine diplomatische Vertretung im Niger, die Beschaffung der nötigen Papiere ist entsprechend mühsam. Seit dem Umsturz hat sich die Lage verschärft. „Wir können einfach nicht mehr“, sagt Fodah Janka Nabay, 30. (Foto: https://cputsch.photoshelter.com/gallery-image/Niger-Migration/G0000jBpBV97dvHM/I0000xR7QWz7kXNU)

Er wurde in Algerien auf dem Weg nach Deutschland abgefangen, hängt nun seit acht Monaten mit seiner Frau und zwei Kindern in Niger fest. Ohne Unterstützung der IOM, sagt er. Deren Budget bis 2024 wird nicht nur wegen der vielen aus Nordafrika ausgewiesenen Migranten schon Ende dieses Jahres erschöpft sein. Die Ausgaben für Lebensmittel steigen rasant, auch die Gefahr von Terror und Kriminalität treibt die Kosten nach oben.

Umgerechnet 2300 Euro hat Nabay der geplatzte Traum von Europa gekostet, einige seiner Freunde bezahlten ihn gar mit dem Leben. „Ich habe meine Lektion gelernt“, sagt er – nie mehr mit Schleppern. Wie stehen die Chancen auf ein reguläres Visum? „Nicht gut.“ Er macht sich da keine Illusionen.

Den Weg nach Algerien hatte er über das gefährlichere Mali angetreten. Niger hat er schlicht gemieden, weil hier die Gesetze gegen Schlepper strenger sind. Die Frage ist, wie lange noch. Darüber wird einige Straßen weiter in einem Bürogebäude beraten.

Dort sitzt Ousmane Mamane, ein stattlicher Mann im weißen Gewand unter flackerndem Halogenlicht. Er leitet die im Niger federführende Regierungsagentur im Kampf gegen Schlepper, die ANTLP. Schon vor dem Putsch sei der Widerstand aus der Stadt Agadez gegen die Grenzpatrouillen groß gewesen, erzählt er. Schließlich hätten viele deshalb ihr lukratives Einkommen verloren.

Vor einigen Wochen habe der Chef der Militärjunta, Abdourahamane Tchiani, nun lokale Politiker in Agadez getroffen, sagt Mamane. „Sie haben neben der Abschaffung des Gesetzes die Freilassung der inhaftierten Schlepper und die Rückgabe der beschlagnahmten Geländewagen gefordert.“ Tchiani habe ihn dann aufgefordert, einen Bericht zu erstellen, sagt Mamane, er warte noch auf einige Schriftstücke aus Agadez. Am Ende sei es dann Tchiani, der auf dieser Grundlage per Dekret entscheide.

Schon jetzt wackelt das System. Das Regierungsbudget wird nach dem Putsch wegen eingefrorener Budgethilfen, Sanktionen und anderer wirtschaftlicher Folgen von fünf auf drei Milliarden Euro sinken. Das hat Auswirkungen auf Gesundheit und Bildung – und den Grenzschutz. „Wir arbeiten auch ohne die EU-Hilfe weiter an der Kontrolle der Migrationswege“, sagt Mamane, „aber unsere Mittel sind jetzt sehr eingeschränkt, wir müssen uns auf bestimmte Routen konzentrieren.“

Die Zahl der Reisenden durch den Niger in Richtung Libyen war nach dem Höchstwert von 2016, als IOM-Angaben zufolge knapp 300.000 in Richtung Libyen zogen, zunächst deutlich gesunken: auf maximal 50.000 jährlich.

Es spricht einiges dafür, dass die Patrouillen schon länger nachgelassen haben. Denn im Jahr 2022 stieg der Wert für Reisende in Richtung Libyen deutlich auf 109.000, auch in Richtung Algerien (83.000) gab es eine Verdoppelung binnen zweier Jahre, die nicht allein mit saisonaler Migration von Nigrern zu erklären ist.

Die Frage ist, ob sich die Zahlen Richtung Libyen sogar wieder den dreimal so hohen Werten aus den Jahren 2015 und 2016 nähern werden – und das könnte auch bei den Verhandlungen mit der Militärjunta eine Rolle spielen. Der angedrohte Einmarsch von Truppen des westafrikanischen Staatenbundes Ecowas gilt inzwischen als äußerst unwahrscheinlich. Und auch die harten Sanktionen von Ecowas (Banken, eingestellte Stromlieferungen, Handelssperre) werden wohl aufgeweicht, sobald man sich auf eine Frist für Neuwahlen einigt.

Die von anti-französischer Stimmung der Bevölkerung getragenen Generäle drängen auf drei Jahre, Ecowas räumt maximal 1,5 Jahre ein – darauf hofft auch der Westen. Beobachter gehen davon aus, dass Tchiani Migration als Druckmittel einsetzen wird, etwa bei Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, den die Junta mit einiger Dreistigkeit bereits um Finanzhilfe gebeten hat. Erdogan 2.0 in der Sahara.

Es gibt allerdings auch berechtigte rechtliche Kritik am Abkommen mit der EU. Von Maikoul Zodi zum Beispiel, der eine Koalition aus 30 Bürgerrechtsorganisationen anführt. Die Migranten würden meist schon Hunderte Kilometer entfernt von der Grenze zu Libyen abgefangen. „Das ist illegal“, sagt Zodi, „Bürger der Ecowas-Staaten dürfen sich in den Mitgliedsländern frei bewegen.“

Sechs Mal wurde der Aktivist wegen Regierungskritik verhaftet – und prangerte dann doch immer wieder die aus seiner Sicht erwiesene Korruption unter dem bis zum Jahr 2021 amtierenden Präsidenten Mahamadou Issoufou an. „Issoufou hat das Geld der EU genommen, bei der Bevölkerung ist kaum etwas angekommen“, behauptet er. Auch die konkret für den Grenzschutz geflossenen Zahlungen seien teils zweckentfremdet worden.

Immerhin eine gute Nachricht gibt es am Ende der Recherche. Der junge Guineer, der den Strommast hochgeklettert ist, lebe, schreibt eine Mitarbeiterin der IOM per WhatsApp. Er sei auf dem Weg der Besserung, „zum Glück“.

Es sind freilich mehr als nur körperliche Wunden, die heilen müssen. Nicht nur bei ihm.