Christian Putsch

Lästige Zivilisten an die Front

Christian Putsch
Lästige Zivilisten an die Front

Als die Soldaten kamen, hatte Arouna Louré gerade die Vollnarkose eingeleitet. Sein Patient, ein Mann um die 50, lag wegen eines schweren Bandscheibenvorfalls auf dem Operationstisch und hatte bereits das Bewusstsein verloren. So entging ihm zum Glück, dass ihm gerade sein Anästhesist abhandenkam.

Denn der Arzt habe unverzüglich mitzukommen, teilten die unwillkommenen Besucher Louré mit. „Das geht doch nicht“, erwiderte der Mediziner. Die Operation war auf 90 Minuten angesetzt, ohne ihn könnten Komplikationen bei der Narkose tödlich enden. Einen Moment zögerten die Männer. Dann warteten sie gnädigerweise mit der Abführung, bis ein eilig herbeigerufener Anästhesist übernommen hatte. Louré wehrte sich nicht, damals, im vergangenen September.

Er hatte geahnt, dass die Soldaten eines Tages kommen würden. Denn seit der Machtergreifung der Armee vor zwei Jahren hatte der 39-Jährige schlicht fortgesetzt, was er schon immer getan hatte. Sagen, was ist. Sagen, was er denkt. Zunächst über das Greifbare, direkt vor seinen Augen: die Korruption und Missmanagement im Gesundheitssektor. Dann über die Politik in Burkina Faso im Großen, die Willkür der Justiz, zuletzt auch die Putschisten und ihren planlosen Kampf gegen den ausufernden Terrorismus in dem Sahelstaat. Auf Facebook, wo er 26.000 Follower hat. Bei Gewerkschaftstreffen, politischen Diskussionen.

Derartige Kritik führt in Burkina Faso in diesen Tagen mit einiger Sicherheit an die Front. Offiziell sind Zweidrittel des Landes, dessen Fläche nicht viel kleiner als Deutschland ist, unter staatlicher Kontrolle. So mancher Beobachter hält aber selbst 50 Prozent für eine eher optimistische Schätzung. 8000 Tote gab es 2023 und damit eine Verdoppelung zum Vorjahr, teilt die Konfliktdatenorganisation ACLED mit. Sie erkennt einen „fast landesweiten Konflikt mit der Dimension eines Bürgerkrieges”.

Im April 2023 verschärfte die Junta per Dekret die Rekrutierungsvoraussetzungen für die Zivilisten-Truppe „Freiwillige für die Verteidigung des Heimatlandes“ (VDP), seitdem darf auch zwangsrekrutiert werden, um wenigstens Landstriche von den Terroristen zurückzuerobern. Demnach kann jeder Mann im Alter von 17 bis 70 Jahre eingezogen und notdürftig ausgebildet und bewaffnet in den Kampf geschickt werden.

Anders als die Nachbarn in Mali setzt die Junta also nicht auf russische Wagner-Söldner, um gegen Dschihadisten und andere bewaffnete Gruppen in den Krieg zu ziehen. Zumindest vorerst nicht. Russlands Diktator Wladimir Putin hat 100 Soldaten geschickt, die sich aber überwiegend auf dem Gelände des Präsidentenpalasts in der noch recht sicheren Hauptstadt Ouagadougou eingenistet haben. Französische Kampftruppen wurden Anfang 2023 rausgeworfen, wie zuvor schon in Mali und danach in Niger – die Dienste der verhassten Ex-Kolonialmacht sind in den drei Wüstenländern, die zum Epizentrum des globalen Terrors geworden sind, nicht mehr erwünscht.

Weil der Westen keine Waffen mehr liefert, kauft man inzwischen Drohnen in der Türkei ein. China lieferte in erheblichem Umfang Militärausrüstung, auch in den Iran und nach Nordkorea streckten die Generäle ihre Fühler aus. Irgendwo müssen die Waffen herkommen, um die Terroristen aufzuhalten. Und angesichts der Bedrohung ist es durchaus nachvollziehbar, dass man bei der Wahl der Lieferanten nicht allzu wählerisch ist.

Die Russen wurden vereinzelt auch in von Terroristen bedrohten nördlichen Gegenden gesichtet, werden aber vor allem eingesetzt, um Junta-Chef Ibrahim Traoré gegen durchaus mögliche Putsch-Versuche aus den eigenen, zerstritten Reihen zu schützen. Sie sind also gebunden, wie auch einige der besten burkinischen Einheiten, die so dringend an der Front benötigt würden.

Demnächst sollen weitere 200 russische Soldaten ankommen. Er wolle keine Wagner-Leute, betont der Umetikettierer Traoré immer wieder. Das mit Rohstoffkonzessionen erwerbliche Leibgarden-Angebot des Kremls ist in Afrika bisweilen das wichtigere Verkaufsargument als der Kampf gegen Islamisten oder Schmuggel-Kartelle irgendwo in der Peripherie.

Derartige Aufgaben müssen „Patrioten“ übernehmen, so die Militär-Propaganda. Auf 50.000 Mann ist die VDP konzipiert, ihre genaue Größe ist unbekannt. Ähnlich wie einst Volksverteidigungseinheiten in Syrien und dem Irak, oder auch in Nigeria, Kolumbien und den Philippinen sollen in Burkina Faso Bürger die schwache Armee (rund 12.000 Soldaten und Polizisten) unterstützen.

Zunächst bestand die VDP tatsächlich überwiegend aus Freiwilligen in den betroffenen Gegenden im Norden und Osten. Diese nutzten ihre zugeschanzten Waffen allerdings oft derart umfangreich auch für Verbrechen und Eskalationen gegen rivalisierende Volksgruppen ein, dass es für kürzlich illegal erklärt wurde, sie abseits von Kampfhandlungen gegen Terroristen mit sich zu führen. Die Gefahr einer derartigen nur schwer umkehrbaren Militarisierung ist nicht nur in Burkina Faso hinreichend dokumentiert.

Ihre Einberufung in die VDP müssen in Ouagadougou nur wenige fürchten. Solange sie ihren Mund halten. Arzt Louré wurde 250 Kilometer von der Stadt entfernt eingesetzt, in einer Gegend, in der er keine Ortskenntnis hatte. So ging es zuletzt Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten, die sich kritisch gegenüber der Junta geäußert hatten. Darunter etwa der Aktivist Daouda Diallo, der 2022 einen der wichtigsten internationalen Preise für Verteidiger von Bürgerrechten gewonnen hatte. Oder der gleichermaßen einflussreiche wie meinungsstarke Unternehmer Anselme Kambou. Beide wurden regelrecht von Sicherheitskräften entführt, von beiden fehlt seit Monaten jedes Lebenszeichen. Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation “Human Rights Watch” weitet die Junta so „ihr Vorgehen gegen Andersdenkende aus“.

Das ist Louré ohne Frage weiterhin. An einem Sonntagabend sitzt er in seinem Büro in einem Krankenhaus in Ouagadougou, eine lange Schicht liegt hinter ihm. Das Land hatte schon immer zu wenig Ärzte, ihr Gehalt liegt bei umgerechnet rund 500 Euro – seit der Terror aus Mali rüberschwappte und viele das Land verließen, werden Mediziner wie er noch dringender gebraucht. Auch von der Armee. Und das rettete ihm möglicherweise das Leben.

Er habe Glück gehabt, sei zur Versorgung der Verwundeten eingesetzt worden. „Ich musste nicht direkt kämpfen“, sagt der Arzt. Aber während seiner zwei Monate an der Front verging keine Nacht ohne Gewehrschüsse. Was, wenn sie das Camp angreifen? Nur fünf Wochen war er ausgebildet worden, ein wenig Umgang mit Waffen. „Viel mehr war da nicht“, sagt Louré. Und wer ist Feind? „Wer nicht aus der Gegend stammt, kann die lokalen Dynamiken der Gewalt kaum verstehen. Allein deshalb ist das Programm nicht sinnvoll.“ Natürlich sei der Einzug „ein systematisches Instrument der Strafe“, sagt er, „manchmal reicht schon ein kritischer Kommentar unter einem Facebook-Post.”

Wie durch ein Wunder wurde keiner der „Freiwilligen“, die mit ihm nahe der Grenze zu Mali eingesetzt wurden, getötet. Dass sie leben, kann während des Einsatzes kaum einer der Familie vermelden. Den eingezogenen Regimegegnern wird das Handy weggenommen. Und der Pass gleich mit.

In einer Hotellobby versucht sich Laurent Kibora – einer der Berater der Junta – an einer Rechtfertigung der VDP-Truppen. „Während des Zweiten Weltkriegs wurde doch auch ganz Frankreich mobilisiert”, sagt der Sicherheitsexperte. Und den Bürgern in seinem Land müsse in den betroffenen Dörfern die Möglichkeit gegeben werden, sich zu verteidigen.

Es stimme, dass auffällig viele Regimegegner auch aus der Ferne eingezogen würden, räumt Kibora ein. „In Kriegszeiten ist bestimmte Kritik am Militär nicht akzeptabel, etwa die verleumderische Unterstellung, dass es nichts gegen den Terror unternehme.“ Es gehe nicht darum, skeptische Bürger im Kampf zu verheizen, sondern ihnen die Situation vor Ort zu zeigen. „Wenn man das sieht, dann wird einem klar, ob das Gesagte richtig oder falsch war.“

Das möchte Arzt Louré schon noch gerne selbst und ohne Lebensgefahr entscheiden. Er scheut sich nicht, mit Journalisten über seine Erfahrungen an der Front zu reden. Auch nicht, als ihm ein Onkel berichtete, wie ihn ein befreundeter Soldat nach einem BBC-Bericht zur Seite genommen hatte. Seine Botschaft: „Dein Neffe hält jetzt mal besser die Klappe.“

Kommt für Louré nicht infrage. Auch nicht das Verlassen seiner Heimat, zu dem ihm so viele raten. „Ich kämpfe seit zehn Jahren gegen schlechte Regierungsführung“, sagt Louré. Solange sich das nicht ändere, werde das Land unsicher sein, die aktuelle Situation sei lediglich die Folge. „Wenn ich mich wegducke, überlebe ich vielleicht heute – aber was ist morgen?“

Er hat mit seiner Frau gesprochen, denn natürlich denkt er auch an die drei gemeinsamen Kinder. Sie sieht es wie er. Bleiben. Und nicht schweigen. Für die Zukunft seiner stolzen Heimat. Übersetzt bedeutet der Ländername Burkina Faso übrigens „Land der aufrechten Menschen“.

Zu Recht.