Christian Putsch

In Nigerias Einsatzzentrale gegen die Piraten

Christian Putsch
In Nigerias Einsatzzentrale gegen die Piraten

Lange war Nigeria das Epizentrum der modernen Piraterie. Zuletzt aber sank die Zahl der Angriffe rapide –auch dank eines in Israel entwickelten Überwachungssystems. Unseren Autor wurde nun einer der raren Besuche im Kontrollzentrum in der Hauptstadt Abuja erlaubt

Als die fünf bewaffneten Piraten am 25. März das dänische Frachtschiff „Monjasa Reformer“ enterten, flüchteten die 16 Crew-Mitglieder in die Zitadelle, den Schutzraum. Sie hatten hier, 144 Seemeilen vor der Küste der Republik Kongo, nicht mit dem Angriff gerechnet. Der Golf von Guinea hatte seinen Ruf als Piratennest zuletzt ein Stück weit abgelegt, in den vergangenen beiden Jahren gab es deutlich weniger Angriffe.

In der Seefahrtbranche verbreitete sich die Nachricht rasant. Umgehend versendete das Internationale Maritimbüro, eine auf Kriminalitätsbekämpfung auf See spezialisierte Abteilung der Internationalen Handelskammer, die Alarmmeldung „IMB/PRC/Alert – 016 – 2023“. Die Besitzer der „Monjasa Reformer“ hätten die Kommunikation mit der Besatzung verloren: „Alle Schiffe sind aufgefordert, Ausschau nach dem Frachtschiff zu halten.“

Am Freitag gelang das schließlich der französischen Marine – 500 Seemeilen vom Tatort entfernt. Die Matrosen an Bord waren unversehrt, doch nach Informationen der WELT fehlten sechs Besatzungsmitglieder, sie wurden entführt.

Auffallend ist, dass dieser Angriff, der spektakulärste seit langem, fernab der nigerianischen Küste stattfand. Denn diese galt in den vergangenen zehn Jahren als Synonym für Piraterie in Afrika. Dass sich Angriffe im Golf von Guinea, wie auf die „Monjasa Reformer“, von Nigeria weg verlagert haben, liegt auch an einem Kontrollzentrum im Hauptquartier der Armee in der Hauptstadt Abuja, 500 Kilometer landeinwärts. Auf einem sechs Meter hohen Bildschirm mit der Größe einer Kinoleinwand bewegen sich Dutzende kleine Punkte – die Live-Positionen aller Schiffe in den 200 Seemeilen vor der Küste Nigerias. Davor sind 35 Arbeitsplätze mit kleineren Bildschirmen aufgebaut. Man könnte in diesem blau ausgeleuchteten Saal gut Nasa-Spielfilme drehen.

Aus Sicht von Nigerias Navy steht der Saal dagegen für eine sehr reale nigerianische Erfolgsgeschichte. Das von der israelischen Firma „Asia Global Technology“ entwickelte System „Falcon Eye“ (Falkenauge) schlägt aus, wenn ein Schiff sein automatisches Identifikationssystem deaktiviert, oder es sich anderweitig verdächtig verhält. Dazu gehören ungewöhnliche Kurse, wie das Zusteuern auf andere Frachter – aber auch jegliche Auffälligkeiten des Schiffes in der Vergangenheit werden erfasst.

„So ergibt sich ein Risikoindex, ab 70 Prozent alarmieren wir umgehend unsere Küstenwache“, sagt Adedotun Ayo-Vaughan, der Sprecher der Navy, „wir sind das Auge unserer Marine, haben unsere Leute schon im dichtesten Nebel bis auf wenige Meter an die Piratenboote navigiert.“ Auch beim Zugriff sei man über Körperkameras in Echtzeit dabei.

„Wir haben damit die Zahl der Angriffe nahezu auf null gebracht“, sagt Ayo-Vaughan. Von den nur noch 19 Angriffen, die vom Internationalen Maritimbüro für das Jahr 2022 im Golf von Guinea vermeldet wurden (2021 waren es noch 35), habe es nur zwei vor Nigerias Küste gegeben. Und einer davon sei gestoppt worden. Inzwischen werden in den Gewässern der Straße von Singapur mehr Raubangriffe vermeldet als vor Nigerias Küste.

In Nigeria, das fast ein Jahrzehnt der Wirtschaftskrise und gerade erst chaotische Wahlen hinter sich hat, wird mit dem System durchaus angegeben. „Wir hatten Besucher der britischen Navy, die sagten, sie würden sich ein derartiges System wünschen“, sagt Ayo-Vaughan. Bei gemeinsamen Militärübungen wie zuletzt mit Kriegsschiffen der USA, Frankreich und Italien seien die Besucher „beeindruckt“ gewesen.

Nigeria hat eine der größten Kriegsflotten des Kontinents und fährt bei derartigen Anlässen im großen Stil auf, will seinen Führungsanspruch als größte Volkswirtschaft Afrikas untermauern. Allein deshalb war immer klar, dass eine erfolgreiche Anti-Piraterie-Lösung wie im „Failed State“ Somalia, wo die Regierung unter anderem der EU erlaubte, die dortigen Gewässer mit Kriegsschiffen zu überwachen, nicht übertragbar sein würde. Als Anfang des Jahres 2021 die dänische Regierung ein Kriegsschiff in Richtung Nigeria schickte, weil dort mehrere Schiffe überfallen worden waren, durfte es nach WELT-Informationen nur außerhalb des nigerianischen Hoheitsgebiets patrouillieren – auch als Logistikbasis musste man auf ein anderes Land in Westafrika ausweichen.

Doch der Rückgang der Piratenangriffe hat das Versicherungsunternehmen Lloyd’s im Februar dazu veranlasst, Nigeria aus der höchsten Gefahrenstufe zu entfernen. Eine wichtige Nachricht, denn 90 Prozent des Handels mit Westafrika findet auf dem Seeweg statt. Die Versicherungsgebühren sinken damit deutlich, was Importe, Produktionskosten und Lebensmittelpreise verbilligt. Umgekehrt dürften auch Lieferungen für Flüssiggas, die sich Europa mittelfristig aus Nigeria erhofft, erschwinglicher werden.

Cormac Mc Garry, stellvertretender Direktor der Risikoberatungsfirma „Control Risks“, sieht durchaus Fortschritte, man beobachte die „niedrigste Piraterie-Rate in 15 Jahren“. Neben dem Falcon Eye-System spiele auch eine Rolle, dass die Navy ihre Kapazitäten mit einer öffentlich-privaten Partnerschaft deutlich ausgebaut habe. Die Schiffsbesitzer mieten Schutzboote von privaten Firmen, auf denen wiederum Waffen und Soldaten der Navy zum Einsatz kämen.

Im Jahr 2021 gab es zudem mehrere Schläge gegen führende Piratengruppen, auch von der Navy des benachbarten Kameruns. Gleichzeitig wurden neue Gesetze verabschiedet, die Strafverfolgung gegen Piraterie erleichtern – nicht nur in Nigeria immer wieder ein juristisches Problem, da die Verbrechen oft außerhalb des Hoheitsgebiets stattfinden. Der Informationsaustausch mit anderen Ländern in Westafrika wurde verbessert, die Mittel im Rahmen der nigerianischen Anti-Piraterie-Initiative „Deep Blue“ deutlich erhöht.

Doch Katja Lindskov Jacobsen vom Zentrum von Militärstudien an der Universität Kopenhagen bleibt skeptisch. „Wir können noch nicht von einem anhaltenden Rückgang der Piraterie ausgehen“, sagt die Autorin eines UN-Berichts zu Gründen für Piraterie im Nigerdelta (Link einfügen: https://www.unodc.org/res/piracy/index_html/UNODC_GMCP_Pirates_of_the_Niger_Delta_between_brown_and_blue_waters.pdf). Schon im Jahr 2010 nach einem Amnestieprogramm und 2016 nach verstärkten militärischen Bemühungen habe es einen signifikanten Rückgang gegeben, der sich als wenig nachhaltig erwiesen habe.

„Die kriminellen Aktivitäten haben sich in erster Linie verschoben“, sagt Jacobsen. In dem Maße, in dem Raubangriffe und Entführungen auf hoher See zurückgehen, nimmt der Diebstahl an den Pipelines zu. Jeden Tag werden Hunderttausende Barrel Rohöl abgezweigt, mit denen dann oft Schiffe aufgefüllt werden, die nur einen Bruchteil der Ladung auch legal erworben haben. Im Jahr 2006 hat Nigeria noch 2,4 Millionen Barrel täglich produziert, das ist auf rund die Hälfte abgesunken. Der Öl-Diebstahl hat enorme Dimensionen angenommen. Für Nigerias Regierung, das 70 Prozent ihrer Einnahmen aus der Öl-Industrie bezieht, eine Katastrophe.

Aus Jacobsens Sicht sei das Problem nur dann nachhaltig in den Griff zu bekommen, wenn die Lebensbedingungen im Nigerdelta, das wie keine andere Gegend weltweit von der Ölindustrie verdreckt wurde, verbessert würden. Fischerei und Landwirtschaft seien dort nahezu nicht mehr möglich, von Industrialisierung könne keine Rede sein. Auch im Verarbeitenden Gewerbe gebe es kaum Arbeitsplätze.

Ein Erfolg aber bleibt der Rückgang der Piraterie natürlich. Im Kontrollraum von Abuja zeigen sie während des WELT-Besuchs einen aufwändig produzierten und mit dramatischer Musik unterlegten Imagefilm, auf dem eine Navy-Operation gegen Piraten nachgestellt wird. Die Radarübersicht der nigerianischen Gewässer wird für zehn Minuten ausgeblendet, an den kleineren Bildschirmen davor stehen nur drei Mitarbeiter – allzu groß ist die Sorge vor Angriffen in diesen Tagen ganz offensichtlich nicht.