Christian Putsch

Nigerias Zentrum der Gewalt

Christian Putsch
Nigerias Zentrum der Gewalt

In keinem Land gab es zuletzt so viele offenbar religiös motivierte Morde an Christen wie in Nigeria. Doch die Gründe sind oft vielschichtiger

Kapstadt/Kaduna – Als die Täter kamen, die ihre Familie töten wollten, versteckte sich Catherine Bernard in einer Abstellkammer. Sie sah, wie die Männer mit Messern, Macheten und Pistolen an dem kleinen Raum vorbeigingen. Einige von ihnen kannte sie, es waren junge Muslime, gerade volljährig, die nicht weit entfernt in Kasuwar Magani leben. In der Gemeinde im Norden Nigerias leben seit Generationen Christen und Muslime teilweise in der gleichen Nachbarschaft – in der Region keine Selbstverständlichkeit.

Bernard blieb unentdeckt, ihr Mann nicht. Sie hatte ihn nicht retten können, er lag krank im Bett, auch die Tochter. Er wurde entdeckt, wie auch eine der Töchter. Beide starben, vor den Augen der Mutter. Als die Männer das Haus verließen, realisierte die Witwe, dass sie am ganzen Körper zitterte. „Ich sackte zu Boden“, sagt sie, „ich wusste nicht, wo ich war.“

Zwei Jahre sind seit der Tat vergangen. Bernard lebt mit ihren beiden überlebenden Kindern Hunderte Kilometer entfernt, wie Tausende weitere Christen im Süden der gemischt-religiösen Provinz Kaduna musste sie fliehen. Hier gab es zuletzt besonders viele Übergriffe, die als religiös motiviert gelten.

Es sind erschreckende Berichte, die von der christlichen Hilfsorganisation „Open Doors“ vorgelegt werden. Sie hat sich die Unterstützung von verfolgten Gläubigen in 60 Ländern zur Aufgabe gemacht. Im Jahr 2019 habe es in der Region im Zentrum Nigerias, wo der christlich dominierte Süden in den muslimisch geprägten Norden übergeht, 1350 getötete Christen gegeben. Mehr als in jedem anderen Land, es handele sich um ein Drittel der weltweit aus religiösen Gründen getöteten Christen. 

Zwischen den Jahren 2006 und 2014 seien 11.500 Christen getötet, seit dem Jahr 2000 über eine Million vertrieben worden. Oft leben diese Menschen auch Jahre später noch in Flüchtlingslagern. Proportional zur Einwohnerzahl (210 Millionen) ist Nigeria nach Einschätzung von „Open Doors“ damit das zwölftgefährlichste Land für Christen weltweit.

Die Menschenrechtsorganisation „Genocide Watch“ berichtet, dass Milizen wie die Fulani und Boko Haram seit dem Jahr 2012 über 27.000 Christen in Nigeria getötet haben – mehr, als in Syrien und dem Irak durch den „Islamischen Staat“ ums Leben kamen. Boko Haram zwingt immer wieder christliche Mädchen zur Konversion durch Zwangsheirat, Christen wurden auch als menschliche Schutzschilder bei Kämpfen eingesetzt.

Es ist in vielen Fällen der Gewalt allerdings durchaus umstritten, ob Religion der ausschlaggebende Faktor ist, schließlich werden in der Region auch zahlreiche Muslime Opfer von Gewalt. Seit Jahren gibt es vermehrt Konflikte zwischen nomadischen Hirtenvölkern und Siedlern wie den Bernards. Die Hirten in der Region sind zumeist muslimischen Glaubens, die Siedler eher Christen. Religion ist einer der wichtigen Gründe, schließlich wurden nach Angaben von „Open Doors“ Tausende Kirchen zerstört oder geschlossen, zudem begründeten viele Täter ihre Morde explizit mit dem Glauben der Opfer oder der ethnischen Abstammung.

Aber bei unzähligen Verbrechen geht es in erster Linie um Land und Weiderechte. Zumal in den vergangenen Jahren Hirtenvölker aus den Nachbarländern Niger und Tschad wegen die Ausweitung der Wüste im Tschadbecken über die porösen Grenzen vermehrt nach Nigeria ziehen - und sich in Afrikas bevölkerungsreichsten Land mit Gewalt Zugriff auf fruchtbare Gegenden verschaffen. Nach Angaben der amerikanischen Lobby-Gruppe “In Defense of Christians” werde mit Gewalt versucht, die Christen von ihrem Land zu vertreiben. 

George Ehusani, der ehemalige Generalsekretär der katholischen Kirche in Nigeria, setzt sich seit Jahrzehnten für Aussöhnung zwischen Christen und Muslimen in der Region ein. Er führt die Übergriffe auch auf historische Gründe während der Kolonialzeit zurück. Die Briten räumten den Kalifen damals im Norden umfangreiche Selbstbestimmungsrechte ein. „Missionaren wurde nicht erlaubt, in den Dörfern zu predigen, christliche Arbeiter dort wurden als Bürger zweiter Klasse behandelt“, sagt Ehusani. Und das setze sich in Teilen bis heute fort, besonders in Kaduna State, wo es in etwa gleich viele Christen und Muslime gibt.

Unter dem aktuellen Präsidenten Muhammadu Buhari, ein Fulani aus dem Norden, wurden acht der neun Chefs von Armee, Polizei und Strafverfolgungsbehörden mit Muslimen besetzt. Und in Kaduna erwartete die christliche Bevölkerung eigentlich, dass der muslimische Gouverneur einen Christen als Stellvertreter einsetzen würde, so wie es in dem Bundesstaat Tradition ist. Er entschied sich aber für einen Muslimen. Auf lokaler Ebene werden zudem in christlichen Dörfern zunehmend lokale Chiefs eingesetzt, gegen den Willen der Bevölkerung. Das sorgt für Spannungen. 

Offiziell herrscht in Nigeria laut Verfassung eigentlich Religionsfreiheit. Doch in den meisten nördlichen Bundesstaaten gilt seit dem Jahr 2001 parallel wieder die Scharia-Gesetzgebung – sie war zuletzt im 19. Jahrhundert vor Beginn des britischen Kolonialismus gültig gewesen. Eine Konversion kann mit der Todesstrafe belegt werden. 

Immerhin wurde die Scharia-Polizei „Hisba“, die bis vor rund 15 Jahren mit grausamen Fällen von Selbstjustiz auffiel, einigermaßen unter Kontrolle gebracht. Die Scharia-Gesetzgebung wird längst nicht mehr so oft angewandt wie damals. Auch im Süden Nigerias ist es mit der Religionsfreiheit übrigens nicht weit her, wenn man weder dem Christentum, noch dem Islam angehört. Es gab schon Atheisten, die nach dem Blasphemiegesetzen zu Geldstrafen verurteilt wurden.

Es ist eine kleine Minderheit der Muslime, die für die Gewalt verantwortlich ist. Doch 80 Prozent der Bevölkerung in christlichen Gemeinden im Norden bewertet die Entwicklung der Beziehungen mit Muslimen der vergangenen zehn Jahre laut einer Umfrage von „Open Doors“ als negativ. „Es gibt ein Klima der Straflosigkeit“, sagt Ehusani. Die Regierung gehe nicht konsequent genug gegen Fulani und andere Gruppen vor, die für Übergriffe auf christliche Dörfer verantwortlich seien. „Die christliche Bevölkerung ist wütend. Sie fühlt sich ausgeschlossen - in Kaduna State und auf nationaler Ebene.“ Denn auch in Buharis Regierung seien Muslime derzeit weit überproportionaler als ihr Bevölkerungsanteil von rund 50 Prozent vertreten.

Zweimal wöchentlich plädiert Ehusani in TV-Shows für Frieden. In lokalen Workshops werden dort die Konflikte aufgearbeitet. Manchmal auch, um Vergeltung zu vermeiden. So mancher Mord an einem Christen hatte keinen religiösen Hintergrund, löste aber eine Spirale gegenseitiger Vergeltung aus.

Catherine Bernard versucht, ihren beiden überlebenden Kindern das Gegenteil zu lehren - Vergebung. Trotz des Verlusts ihres Mannes und einer Tochter. Trotz der Tatsache, dass sie wohl nie wieder in ihr Heimatdorf zurückkehren wird. Trotz ihrer Wut.

Und trotz der Trauer, die jeden Satz begleitet. „Vergebung ist das einzige, was mich am Leben hält“, sagt sie. Und sie sei der einzige Weg aus dieser Krise. Sonst werde es immer neue Akte der Rache geben, auch von Christen auf muslimische Gemeinden. 

Gewalt hat ihr Leben dominiert. Sie soll nicht auch das Leben ihrer verbliebenen Kinder prägen.

(mit Ibrahima Yakubu in Kaduna)