„Man trifft selbst auf den schwersten Pfaden Engel“
Ein Machtkampf rivalisierender Generäle stürzt Sudans Hauptstadt Khartum so abrupt und überraschend in einen tödlichen Krieg, wie es eine Metropole selten erlebt hat. Dem Restaurant-Besitzer Osman Moniem, 45, gelang mit seiner Familie nach über einer Woche der Todesangst die Flucht nach Madrid – er hat dabei für die WELT am SONNTAG Tagebuch geführt
Von Osman Moniem, in Khartum/Madrid
15. April, Tag 1:
Als mich um acht Uhr morgens der Krach der ersten Explosionen weckt, da habe ich nur einen Gedanken: Wo ist Sofia, meine elfjährige Tochter? Es ist Samstag, da hat sie eigentlich schulfrei. Aber sie wollte ja früh rüber in die Schule, die ist nur ein paar Hundert Meter von uns entfernt, ein Projekt vorbereiten. Ich stürze aus dem Haus, noch sind Menschen auf den Straßen, keiner hat diese Eskalation kommen sehen. Ich springe ins Auto, finde Sofia unversehrt.
Auf WhatsApp kommen jetzt Dutzende Nachrichten, manche hoffen, dass die Kämpfe nur einige Stunden dauern werden. Aber das hier ist zu laut, zu brutal. Ich weiß, wie schwere Waffen klingen, habe einst im Südsudan bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges ein Catering-Unternehmen betrieben. Ich ahne, dass bis zum völligen Chaos noch eine, vielleicht zwei Stunden bleiben. Ich setze Sofia zu Hause ab, greife mir all unser Bargeld, 72.000 Sudanesische Pfund (110 Euro, d.Red.), fahre zum Supermarkt, schmeiße Reis, Linsen, Milch, Fleisch, Früchte und Gemüse in den Einkaufswagen. Aus Khartum, das ist mir klar, wird es so schnell kein Entkommen geben.
Gestern habe ich noch ganz normal in meinem Restaurant gearbeitet. Es war Alltag. Das ist vorbei.
17. April, Tag 3:
Am Anfang hatten wir die Explosionen nur gehört, jetzt fliegen die Militärjets der Armee über unser Haus, werfen Bomben auf die verfeindeten Truppen der paramilitärischen RSF-Miliz ab. Die feuern mit Flugabwehrraketen. Lautes Pfeifen der Geschosse überall. Erst sieht man die Explosion inmitten der Wohngebiete, dann hört man sie.
Wir haben die Matratzen in die Mitte der Wohnung gelegt, ins Wohnzimmer. Auch die Fenster haben wir mit Matratzen verbarrikadiert, sie sind dabei leicht geöffnet. Das sorgt bei einer Druckwelle für weniger Splitter.
18. April, Tag 4:
Ich muss raus, mir bleibt keine Wahl. Meine Schwester steckt allein im besonders umkämpften Al-Amarat-Viertel fest, hat kaum noch Trinkwasser, kaum Essen. Ich weiß, dass ich an Checkpoints der RSF-Miliz vorbei muss, nehme nur mein altes Handy mit, weil sie mir vielleicht alles abnehmen werden.
Ich sehe die Granate aus dem Augenwinkel, dann schlägt sie in dem Fahrzeug vor mir ein. Meine Stoßstange bricht von der Wucht ab. Schüsse, Feuer, keine Chance zu helfen. Wenn ich sterbe, was wird aus meiner Familie inmitten dieses Krieges? Ich muss umkehren. Sofort. Als ich die Wohnung erreiche, weint Elizabeth, meine Frau. Jemand hat ihr geschrieben, dass es drei Tote auf der „Street 60“ gab. Und sie weiß, dass die Straße zu meiner Schwester führt.
Tag 5, 19. April:
Drei Bomben explodieren in der Nähe. Auf dem Balkon finde ich Patronenhülsen. Wir kippen nun das Sofa im Sofa um und legen unsere Köpfe beim Schlafen unter das Gestell. Alle sind krank vor Sorge. Um Verwandte, Freunde, meine 27 Angestellten, wir erreichen nur wenige. Es gibt kaum noch Strom.
Und Sofia weint wegen der Tiere. Wir kümmern uns um sieben Straßenhunde, haben sie geimpft, gefüttert. Jetzt können wir nichts tun. Und ich weiß, dass wir die Hunde bald ganz zurücklassen müssen. Wenn uns die Flucht denn überhaupt gelingen sollte.
Erst einmal bin ich schon froh, dass wir noch eine Unterkunft haben. Die RSF-Truppen haben Freunde aus ihren Häusern vertrieben, um Scharfschützen auf dem Dach zu platzieren.
Tag 7, 21. April:
Bisher sind zwei Waffenstillstände gescheitert, aber heute gibt es endlich weniger Gefechte. Sicherer ist es deshalb kaum. Die Gefängnisse der Stadt haben die Inhaftierten freigelassen. Polizei, die bei Plünderungen oder Vergewaltigungen eingreifen könnte, gibt es nicht mehr. Verwandte werden von Gangs auf Motorrädern ausgeraubt. Ich glaube, die Armee lässt sie absichtlich gewähren. Damit sie später, nach dem Krieg, sagen können: Vergesst das mit der Demokratie. Nur wenn wir alles fest im Griff haben, seid ihr sicher.
Ich muss jetzt endlich meine Schwester holen. Am Telefon schreit sie mich an: „Komm‘ nicht.“. Meine Frau hat Angst, ich auch, aber die Feuerpause ist vielleicht die letzte Chance. Und diesmal erreiche ich ihre Wohnung. Ich bringe meine Schwester zu ihrem Verlobten in einen anderen Stadtteil, auch er hatte bislang keine Chance, zu ihr zu gelangen. Sie hatten sich nur eine Woche vor Beginn der Kämpfe verlobt. Eigentlich sollte sie gerade ihre Hochzeit vorbereiten. Das ist alles nur ein paar Tage her. Wie weit entfernt dieses alte Leben jetzt scheint.
Tag 8, 22. April:
Ich bin Sudanese. Aber meine Frau hat neben der irischen auch die mexikanische Staatsbürgerschaft. Beide Länder haben keine eigene Botschaft im Sudan. Sie bekommt einen Anruf, Spanien wird mexikanischen Familien bei der Evakuierung helfen, wir sollen morgen Vormittag um sieben zur Residenz des spanischen Botschafters kommen. Nur mit dem Nötigsten.
Am Nachmittag sehen wir, wie US-Spezialkräfte mit Hubschraubern ihre Diplomaten evakuieren, die Botschaft ist nicht weit von uns. Das gibt uns Hoffnung, dass es auch für uns morgen eine Chance gibt.
Wir packen den Laptop ein, Geburtszertifikate, Pässe, Registrierungsurkunden meiner Firma, Familienfotos, ein bisschen Kleidung. Ich stecke 1700 US-Dollar in eine Tüte, klebe sie an meine Unterhose, vielleicht werden die Scheine so an Checkpoints nicht gefunden. Mein Sohn, er ist 13, fragt vorsichtig, ob er die Playstation mitnehmen darf. Äh, nein… Meine Tochter packt ihre Tagebücher ein. Dazu ein Stofftier, einen Hund. Wenigstens den.
Tag 9, 23. April:
In der Dunkelheit erreichen wir die Residenz. Während der Fahrt fragen die Kinder, warum es so stinkt. Es sind tote Soldaten, die in den Straßen liegen, aber ich sage, dass die Müllabfuhr nicht kommen konnte. Im Konvoy zum Flughafen sitzt dann ein argentinischer Pastor neben mir. Wir halten uns durchgehend an der Hand, er Christ, ich Muslim.
Die Spanier sichern mir zu, mich mitzunehmen, weil ich mit einer Mexikanerin verheiratet bin. Sudans Armee sieht das anders. Soldaten rufen am Checkpoint aggressiv, dass nur Ausländer rausdürfen, wollen meinen Pass sehen. Ich sage, dass ich dabei bin, um später das Auto zurückzubringen. Sie lassen auch mich durch.
Wir fahren zu einem Militärflughafen außerhalb Khartums. Dort sind gerade auch die deutschen Soldaten angekommen, in voller Montur, wir sehen an der Körpersprache, dass es nach Plan läuft. Mit Hunderten steigen wir in das spanische Militärflugzeug. Meine Frau und meine Tochter bekommen Sitze, die an den Wänden montiert sind. Mein Sohn und ich sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Das Flugzeug hebt ab – und ich fühle Erleichterung. Weil wir leben. Und Schuld. Weil Freunde, Verwandte, Kollegen zurückbleiben. Oder an den Grenzen zu Ägypten und Äthiopien festhängen.
Tag 14, 28. April
Seit vier Tagen sind wir jetzt in Madrid. Zwei Stunden dauerte der Evakuierungsflug nach Dschibuti, der nach Spanien acht. Die Unterstützung ist überwältigend. Man trifft selbst auf den schwersten Pfaden Engel. Eine Freundin eines Freundes hat uns aufgenommen, versorgt uns rührend, auch mit Klamotten. Meine Frau könnte als Irin sofort nach Großbritannien, auch die Kinder. Ich hoffe, dass ich bald die nötigen Unterlagen bekomme, hoffentlich dort arbeiten kann, als Taxifahrer, Pizza-Bäcker, ist mir ganz egal.
Eines Tages werden wir in den Sudan zurückkehren, da glaube ich fest dran. Nur wann, das weiß ich nicht.
(aufgezeichnet von Christian Putsch)