Niederbayerische Teestunde im Senegal
Die Attaya-Teezeremonie ist der Kittstoff der senegalesischen Gesellschaft. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Charles Huber versammelt mit ihr regelmäßig seine Nachbarschaft. Dabei werden auch unangenehme Themen besprochen – wie Migration
Die erste Runde der Attaya-Teezeremonie ist bitter, jedes Mal. Trotz der Unmengen an Zucker. Sie repräsentiert, so die Legende im Senegal, den Beginn des Lebens und die damit verbundenen Schmerzen. Mit voller Macht entfalten die Blätter des „Attaya“ ihre Kraft, starker grüner Tee. Spitzname: „Pistolenpulver“.
Das Gesprächsvertrauen ist also vor diesem ersten bitteren Aufguss noch nicht ganz gefestigt. Zumindest, wenn ein deutscher Journalist per Whatsapp-Video teilnimmt und mit den jungen Männern in der senegalesischen Kleinstadt Nianing auch über Migration reden möchte. Und so passt es ins Bild, dass sich zwei der vier Teetrinker, die tags zuvor noch ihre Zusage zu dem Gespräch gegeben hatten, doch noch nervös vor dem ersten Schluck verabschieden.
Charles Huber, 64, überrascht das nicht. Das Thema gilt als heikel. Vielleicht ist es aber nur Zufall, manchmal kommen halt mehr, manchmal weniger Nachbarn in Hubers Vorhof. Seit drei Jahren lebt der gebürtige Bayer hier permanent, arbeitet als bestens vernetzter politischer Berater für Präsident Macky Sall. Im Sand wird die Kohle entflammt, der Krug mit den Teeblüten aufgesetzt.
Eine dritte Karriere ist das für Huber, nachdem er einst in der Serie „Der Alte“ als Kriminalkommissars Henry Johnson bundesweit bekannt wurde, einer Zeit, als afrodeutsche Schauspieler im Fernsehen noch unterrepräsentierter waren als heute. Später, als Abgeordneter für die CDU im Bundestag, forderte er, manchmal auch unbequem, eine engere Zusammenarbeit mit dem bis zur Migrationskrise 2015 eher nebensächlich wahrgenommenen afrikanischen Kontinent.
Nun also Senegal, das Land seines Vaters, ein Diplomat, die Mutter war deutsche Hausangestellte. Huber hat seinen Vater erst nach Jahrzehnten kennengelernt, er wuchs in einem bayerischen Dorf auf. Schon vor seiner Zeit als Abgeordneter reiste er quer durch den Kontinent, baute als Berater und Gründer einer Hilfsorganisation ein Netzwerk zu Politikern und Zivilgesellschaft auf. Seit Langem setzt sich Huber für die Belange Afrikas ein, nicht nur in klimatisierten Räumen – wichtige Erkenntnisse gewinnt er oft beim direkten Kontakt mit der Bevölkerung. Und nichts eignet sich dafür besser als die Attaya-Zeremonie, dem Kittstoff der senegalesischen Gesellschaft. Der mit Unmengen Koffein angemischte Tee ist Treibstoff für endlose Diskussionen und Gespräche.
Im Moment ist Hubers Wahlheimat verstärkt im Fokus in Europa, als wieder relevanteres Herkunfts- und Transitland von Migranten und Flüchtlingen. Insgesamt sind die Seeankünfte über das Mittelmeer nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks seit dem Jahr 2015 kontinuierlich rückläufig.
Doch seit dem vergangenen Jahr wagen deutlich mehr Migranten und Flüchtlinge die Bootsreise entlang der westafrikanischen Küste in Richtung der Kanarischen Inseln. Im Jahr 2020 waren es, auch motiviert von der Schließung anderer Fluchtrouten, rund 23.000 – nahezu eine Verzehnfachung im Vergleich zum Vorjahr. Viele nutzen den Senegal als Transitland, doch auch Senegalesen selbst zählen zur Spitzengruppe, obwohl das Land als eines der stabilsten in Westafrika gilt.
Wer das zumindest ein wenig besser verstehen wolle, der müsse mit seinen Nachbarn Attaya trinken, hatte Huber im Vorfeld gesagt. Und sei es nur virtuell, per Handy dazugeschaltet. Heute sind nur Maurice Ndour und Djibi Ndiaye anwesend. Man sagt Hallo, spricht ein wenig über den Tag. Ndour, 30, arbeitet als Wachmann, Ndiaye, 37, sucht als Schweißer Arbeit auf Baustellen. Smalltalk.
Dann startet Ndour die Zeremonie, füllt den Tee in ein Glas, und kippt es geschickt aus Kopfhöhe in ein anderes. Immer wieder wird derart umgefüllt, bis ein dichter Schaum entsteht und die drei Männer das Konzentrat im Glas haben.
Jetzt kann geredet werden. Bis das letzte Thema des Tages ausdiskutiert ist. „Schwierige Debatten werden im Senegal zwar hin-und wieder lautstark, aber selten respektlos geführt“, sagt Huber, „das widerspricht der senegalesischen Kultur, in der die Suche nach dem Konsens eine große Rolle spielt.“ Huber vergleicht seine regelmäßige Attaya-Runde mit einer Art Stammtisch. Das Wort kennt niemand in seiner zweiten Heimat. Das Konzept sehr wohl. Nur mit grünem Tee statt Weizen.
Manchmal sieht man die Boote von Hubers Vorhof aus. Von der Gegend aus, rund 80 Kilometer südlich der Hauptstadt Dakar gelegen, treten viele junge Migranten die tagelange und äußerst riskante Reise an. Kurz nach Nianing entfernen sie sich dann weit von der Küste, um der Küstenwache zu entgehen. So wie viele von ihnen schon als Fischer immer weiter rausgefahren waren angesichts der Überfischung der Gewässer durch mehr und mehr illegaler Akteure. Immer höher wurde so die Benzinrechnung, immer geringer der Gewinn. Unter den Migranten sind Fischer die größte Berufsgruppe. Unter den Gelegenheitsschleppern auch. Umgerechnet rund 700 Euro werde für die Fahrt zu den Inseln verlangt.
„Ich habe Freunde, die bei der Überfahrt gestorben sind“, sagt der Bauarbeiter Ndiaye. Offiziell kamen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Weg rund 400 Migranten auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln ums Leben, mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2019. Doch Ndiaye hält auch das für eine viel zu geringe Zahl. „Allein aus dieser Gegend sind es schon Hunderte.“
Einige von ihnen hatten wenige Tage noch mit ihm an den Fitnessgeräten trainiert hatten, die Huber für die Jugend der Gegend auf seinem Nachbargrundstück hat installieren lassen. „Nachmittags um 15 Uhr habe ich sie auf dem Boot gesehen“, sagt Ndiaye, „zwei Tage später waren sie tot.“ Im Senegal gebe es bei jungen Leuten, die keine Hoffnung in der Heimat mehr spüren, eine Redensart in der lokalen Sprache Wolof. „Barsa wala Barsakh“ – Barcelona oder sterben.
Ndour bereitet den zweiten Aufguss zu, der Tee verliert an Bitterkeit, überdeckt den Zucker nicht mehr. Das ist wie mit der Freundschaft, sagen sie im Senegal, die wird süßer mit der Zeit. Huber erzählt, wie schmerzhaft sich die Covid-Krise bemerkbar macht: „Hier hatten überall neue Läden aufgemacht, die sind jetzt wieder weg“, sagt er, „und dann spüren die Leute natürlich den Druck ihrer Familien.“
Schon vor der Pandemie betrugen die Überweisungen aus der Diaspora an ihre Verwandten im Senegal knapp zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie wurden wie in den meisten afrikanischen Ländern zuletzt noch wichtiger, wegen der verloren gegangenen Arbeitsplätze. „Solange es in den jeweiligen Ländern nur ein geringes Angebot an Arbeitsplätzen gibt, wird das Thema Migration und Rückführung für afrikanische Regierungen innenpolitisch immer ein brisantes Thema bleiben“, sagt Huber.
Migration ist im Senegal tief verankert, auch in der Verfassung. Dort steht, jeder habe das Recht auf freie Mobilität – auf senegalesischem Boden, „und darüber hinaus“. Im legalen Rahmen, heißt es dort noch. Für Empörung sorgt das Thema nur in extremen Fällen. Im vergangenen Jahr schickte ein Vater seinen 14-jährigen Sohn nach Europa, um dort Fußballer zu werden. Der Junge starb, der Vater wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Hubers Gäste sprechen nicht immer vorteilhaft von ihrem Umfeld. Wie arbeitslose Freunde an sozialem Status verlieren. Plötzlich nicht mehr zu Familienfeiern eingeladen werden, sich nur noch geduldet fühlen, weil sie nicht mehr zum Unterhalt für Kinder und Alten beitragen können. Von Erstgeborenen, die früher traditionell automatisch höhergestellt waren als ihre Geschwister, während sich die Hierarchie inzwischen überwiegend danach ausrichtet, wer die Familie finanziell unterstützen kann.
Von Verwandten, die auf senegalesische Facebook-Freunde in Europa verweisen, die in der Lage seien, im Senegal ein Haus zu bauen und ein Auto zu kaufen – ohne zu berücksichtigen, wie Ndour sagt, dass diese oft schon seit Jahrzehnten im Ausland leben, noch dazu legal. Und auf den sozialen Netzwerken natürlich auch nicht immer ein realistisches Bild ihrer Lebensumstände präsentieren.
Eine letzte Runde Attaya wird aufgegossen, der dritte Aufguss ist ein schwacher Tee. Einige assoziieren diesen Abschluss der Zeremonie mit dem Alter, andere angesichts des milden Geschmacks mit gefestigter Liebe – jedenfalls, so sagt Huber, kommen die Gespräche dann oft zu einem versöhnlichen Abschluss. Sich einer schlechten Atmosphäre zu verabschieden, würde den Gepflogenheiten widersprechen.
Schweißer Ndiaye erzählt von seinen beiden Kindern, allein deshalb würde er dieses Risiko nicht eingehen. Er werde bald wieder reguläre Arbeit finden. Wachmann Ndour will sein Land ebenfalls nicht verlassen, er arbeitet hart, baut für seine Familie gerade ein kleines Haus. Drei Zimmer. Ja, einige ihrer Freunde seien gegangen. Aber die meisten hoffen auf neue Perspektiven in der Heimat, arbeiten dafür hart. Das wollen die beiden Männer noch betont wissen.
Und auch Huber weist darauf hin, dass man die Dinge trotz der steigenden Zahlen bei der Westafrika-Route in Relation setzen müsse. Die Migration in Richtung Europa stelle insgesamt einen Bruchteil im Vergleich zum Jahr 2015 dar, die Zahlen sind seitdem jedes Jahr deutlich gesunken. Aber dann kam Covid. Und man müsse Europa daran erinnern, dass nicht Überbevölkerung, sondern das Verhältnis von Bevölkerungswachstum und die Entwicklung des Arbeitsmarkts Hauptgrund für Migration ist. Während der Fokus überwiegend auf Grenzmanagement liege, mangele es weiterhin an Unterstützung für einen effizienten und diversifizierten Ausbau des Privatsektors, findet Huber.
Das wird er vielleicht bei den nächsten Delegationsbesuchen deutscher Politiker betonen. Im klimatisierten Konferenzraum. Oder beim Attaya-Tee.