Christian Putsch

Im Schatten des Tafelbergs

Christian Putsch
Im Schatten des Tafelbergs

Wohl in keinem Land gibt es so viele Parkwächter wie in Südafrika. Sie sind die Schnittstelle zwischen Arm und Reich. Schon vor der Pandemie wurden sie oft ignoriert, nun drückt sie das Coronavirus endgültig an den Rand der Gesellschaft. Über die unsichtbaren Begleiter des südafrikanischen Alltags

Seit 13 Stunden läuft der schmächtige Mann vor dem Supermarkt von Auto zu Auto. Er schiebt Einkaufswagen, schleppt Tüten, hilft aus Parklücken. Ein unscheinbarer Helfer der südafrikanischen Mittelschicht. Die meisten ignorieren Dunbar Tafirennyika, den Parkwächter. Bloß keinen Augenkontakt – so ist es leichter weiterzufahren, ohne zu zahlen. Nur jeder zehnte, sagt der 31-Jährige, kurbelt das Fenster herunter und reicht einige Münzen rüber. 

Seit Jahrzehnten sind „Car Guards“ wie er die Schnittstelle zwischen Arm und Reich in Südafrika, wo die Einkommensunterschiede so groß wie in kaum einem anderen Land sind. Zehntausende gibt es, allgegenwärtige Begleiter des Alltags in den Städten und Vororten. Schon vor der Pandemie war es ein Job für jene, die sich mit letzter Kraft ans Leben krallen. Immigranten ohne gültige Papiere. Oder gering qualifizierte Südafrikaner, die aus ländlichen Gegenden in die Städte strömen. Nun bröckelt während der Coronakrise der letzte Halt.

„Kaum einer will mehr Bargeld in die Hand nehmen“, sagt Tafirennyika. „und bei mir kann man nicht mit Kreditkarte bezahlen.“ Ein Lachen, trotz allem, den Gedanken findet er lustig. Tafirennyika will nicht mit dem Schicksal hadern. „Ich habe Arbeit, ich sollte mich nicht beschweren“, sagt er. Hunderte Autos weist er täglich ein, die meisten gehören Weißen. Für einige hat er während der anfänglichen Panik Dutzende Einkaufstüten ins Auto geladen, ein Vielfaches seines Monatsverdienstes. Er selbst konnte sich derartige Hamsterkäufe nicht leisten. Sie sind ein Luxus der Mittelschicht.

An den meisten Orten Südafrikas merkt man die Nachwirkungen der einstigen Apartheid-Städteplanung bis heute. Die Townships wurden bewusst weit außerhalb der Städte angesiedelt, Arm und Reich sind meist bis heute räumlich getrennt. Hier, im Kapstädter Vorort Hout Bay, ist das anders. 

Im Jahr 1993, als die Nation längst auf dem Weg zur Demokratie war, sollte in der bis dahin fast ausschließlich von Weißen und einigen Gemischtfarbigen bewohnten Gegend am Fuße eines Berges eine Struktur für etwas mehr als 3000 dunkelhäutige Südafrikaner geschaffen werden. Der Name: „Imizamo Yethu“, was so viel wie „Unsere Anstrengung“ bedeutet. Inzwischen gehört Parkwächter Tafirennyika zu den 21.000 Menschen, die auf einer Fläche von 18 Hektar leben. Das entspricht der Fläche von gerade einmal einem Dutzend Fußballplätzen. Der Kontrast des Blechhütten-Meeres zu den großzügigen Einfamilienhäusern der unmittelbaren Nachbarschaft steht wie ein Sinnbild für die Situation des Landes.

Die Townships des Landes gehören gesundheitlich und wirtschaftlich zu den am meisten betroffenen Gegenden. Es ist nicht die erste Pandemie, von der die Geschichte der Armenviertel geprägt wird. Die Ursprünge des heutigen Sowetos in Johannesburg und der Cape Flats in Kapstadt beginnen mit Infektionskrankheiten Anfang des 20. Jahrhunderts, die von den Behörden als Vorwand für die Zwangsumsiedlung von farbigen Bewohnern aus den Stadtzentren genutzt wurden – ein Vorbote der späteren Apartheid. 

Nun ist es das Coronavirus, das die sozialen Unterschiede vergrößert. Tafirennyika geht jeden Tag die drei Kilometer von der einen Welt an den Rand der anderen. Seine Hände sind rau von dem Desinfektionsmittel, das ihm der Besitzer des Supermarkts gegeben hat. In Südafrika gab es offiziell rund 570.000 Infektionen mit dem Coronavirus, weltweit wurden nur in den USA, Brasilien, Indien und Russland mehr vermeldet. 11.000 starben. Zuletzt sank die Zahl der Neuinfektionen, aber der Simbabwer hat Angst, dass er sich anstecken könnte. Dass er die Krankheit in seine Nachbarschaft tragen könnte, wo viele mit Vorerkrankungen wie HIV oder Tuberkulose leben. Noch mehr fürchtet der Vater zweier kleiner Kinder aber etwas anderes: den Verlust der bescheidenen Existenz. Mitten im südafrikanischen Winter das Zimmer für seine Familie zu verlieren. 

Zwei Monate lang hat die Vermieterin die Miete halbiert. 750 Rand (36 Euro) für das zwölf Quadratmeter große Zimmer im Township. Jetzt aber berechnet sie wieder den regulären Preis, gut 70 Euro. Ein paar Tage bleiben Dunbar Tafirennyika noch, um das Geld aufzutreiben. Der Gedanke hält ihn auf den Beinen. Er macht keine Pause. 

Natürlich sind auch die meisten seiner Kunden stark von der Pandemie betroffen. Das Land hatte von März an einen äußerst strengen Lockdown verhängt, folgte starr den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), auf allen Ebenen gab es Massenentlassungen. Doch der Rettungsschirm der Regierung in Höhe von umgerechnet 25 Milliarden Euro kam vor allem formal beschäftigten Arbeitnehmern und korrupten Beamten zugute – allein im Großraum Johannesburg wird gegen 90 Firmen ermittelt, die irreguläre Zahlungen erhalten haben sollen. 

Arbeiter wie Tafirennyika fallen in Südafrika am schnellsten durch das ohnehin brüchige soziale Raster. Vor der Pandemie waren nach Regierungsangaben drei Millionen Menschen im informellen Sektor beschäftigt, etwa 20 Prozent der Arbeitnehmer. Der Anteil wird wegen der derzeitigen Massenentlassungen steigen. Für sie bleibt von den Entschädigungszahlungen nur wenig übrig. 

Dabei waren sie von den Lockdown-Restriktionen besonders hart betroffen, wie dem Verkaufsverbot von Lebensmitteln auf den Straßen während der ersten Wochen. Im Mai versprach die Regierung umgerechnet 24 Millionen Euro für die Straßenhändler. Ein lächerlich niedriger Betrag, aber nicht mal der kam an der Basis an. „Seitdem ist nichts passiert, wir befürchten, dass das Geld versickert und geklaut wird“, sagt Brian Phaaloh, Generalsekretär des Berufsverbands „South African Informal Traders Forum“ (SAITF), der 10.000 Händler vertritt. 

Für die Verzögerung werden fadenscheinige Gründe präsentiert, wie die offene Frage nach der Verteilung. „Die Daten sind doch da“, sagt Phaaloh, „fast alle Händler sind registriert, fast alle haben Bankkonten. Wenn sich nicht bald etwas bewegt, werden wir landesweit protestieren.“ 

Parkwächter Tafirennyika hat sein Leben lang gelernt, sich keine Hoffnung auf staatliche Hilfe zu machen. So war es einst in seiner Heimat Simbabwe, wo er wegen der desaströsen Regentschaft des damaligen Diktators Robert Mugabe seine Ausbildung zum Elektriker abbrechen musste. Die Firma konnte ihn nicht mehr bezahlen, er wurde arbeitslos, so wie 90 Prozent der Bevölkerung. Er hat ungebrochenen Überlebenswillen. Die Frage ist, ob das reicht.

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Es gab Lebensmittellieferungen der Regierung in Imizamo Yethu, aber die Verteilung lief chaotisch – seine Familie bekam nichts. Auch von Sozialhilfezahlungen, die wegen der Pandemie erhöht wurden, profitierte er nicht. Fast alle derartigen Zahlungen gehen an Südafrikaner.

Ganz hat Tafirennyika die Hoffnung noch nicht aufgegeben, der täglichen Jagd nach den Münzen zu entkommen. Er hofft, eines Tages doch noch Elektroniker zu werden. Oder zumindest LKW-Fahrer. Die „Car Guards“ haben schließlich Beispiele für sozialen Aufstieg geliefert. Ein Mathematik-Lehrer aus dem Kongo brachte einst Kindern auf seinem Parkplatz in Pretoria das Rechnen bei – und wurde schließlich von einer Schule eingestellt. Und der Musiker Tresor Riziki, ebenfalls aus dem Kongo, wurde beim Singen während seiner Parkplatzschichten entdeckt. Inzwischen ist er einer der bestverdienenden Musiker in Südafrika.

Aber derartige Gedanken sind für Tafirennyika erst einmal weit weg. Es zählt jetzt jeder Rand. Zumal er seine Eltern in Simbabwe unterstützen muss. Seine Frau verkauft gebrauchte Kleidung. Das war zuerst monatelang untersagt, inzwischen versuchen sich wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit so viele in dem Gewerbe, dass sich kaum mehr etwas verdienen lässt. 

Am Abend hat Tafirennyika 238 Rand in der Tasche, gut elf Euro. Sie müssen einige Tage lang reichen. Denn er teilt sich den Job vor dem Supermarkt seit einigen Wochen mit einem Freund. Der würde sonst Hunger leiden, sagt Tafirennyika. Irgendwie wird es auch so gehen – „mit Gottes Hilfe“.