Südafrikas neuer Druck auf die Polizei
Wenige Wochen vor George Floyds Tod in den USA starb in Südafrika der Township-Bewohner Collins Khosa nach Schlägen von Soldaten. Der Fall sorgt für selten erlebte landesweite Empörung – besonders bei einer Zeitzeugin des Soweto-Aufstands von 1976
Sie trägt Schwarz, wie an jedem Tag während der vergangenen drei Monate. Nomsa Montsha sitzt auf einem Kunstledersofa, auf dem Fernseher vor ihr flimmert lautlos eine Serie des südafrikanischen Staatssenders „SABC“. Ab und zu, wenn der Schmerz der Erinnerung zu groß wird, ihr die Kraft für das Gespräch ausgeht, schaut sie stumm auf den Bildschirm. Momente der Ablenkung, eine Sekundenflucht aus diesen Mauern, in denen ihr Lebensgefährte Collins Khosa seine letzten Atemzüge nahm.
Es war der 10. April, die Schläge der vier Soldaten gegen die Tür hallen heute noch in ihrem Kopf nach. „Sie haben das Schloss eingetreten und mich an den Haaren herausgezogen“, sagt sie, „es war Chaos, da sind so viele Dinge passiert.“ Sie sah, wie Khosa mit den Sicherheitskräften stritt, sich gegen den Vorwurf wehrte, die Bestimmungen zur Eindämmung des Coronavirus verletzt zu haben. Die vier Soldaten hatten bei einer von Polizisten begleiteten Patrouille behauptet, der Konsum von Alkohol sei verboten. Eine Lüge. Khosa, 40, hatte zwar etwas getrunken, aber auf seinem eigenen Grundstück – was erlaubt war. Lediglich der Verkauf war damals untersagt, um die Krankenhäuser zu entlasten. Dieses zwischenzeitlich aufgehobene Verbot wurde inzwischen wegen der massiv steigenden Infektionszahlen wieder verhängt. Rund 13.000 Erkrankte werden derzeit täglich gemeldet, mit 276.000 Gesamtinfizierten ist das Land inzwischen stärker als Deutschland betroffen (200.000).
Auf dem Grundstück eskalierte die Situation, als die Uniformierten das Eingangstor des Grundstücks gegen Khosas Auto stießen. Acht Zeugen berichteten von anschließender Gewalt der Soldaten, einer habe mit einem Gewehrkolben gegen Khosas Kopf gestoßen. Als sie schließlich weiterzogen, taumelte Khosa übel zugerichtet zurück in sein Haus. Er ging ins Badezimmer, übergab sich, ging ins Schlafzimmer, übergab sich wieder. Einmal noch drückte er Montshas Hand. Dann verlor Khosa, ein Vater von drei Söhnen, das Bewusstsein. Ein herbeigerufener Rettungssanitäter stellte den Tod fest.
Einer von vielen beim Einsatz von südafrikanischen Sicherheitskräften. Allein im aktuellen Jahresbericht des „Independent Police Investigative Directorate“ (IPID), einer Regierungsbehörde für die Untersuchung von Polizeigewalt, ist von 214 untersuchten Todesfällen in Polizeigewahrsam und 393 Toten durch Polizeigewalt die Rede. Rund ein Drittel der Fälle in Polizeigewahrsam sei auf natürliche Todesursachen zurückzuführen, bei einem weiteren Drittel handele es sich um Selbstmorde, so die Darstellung der Polizei. Zum Vergleich: In Deutschland starben im Jahr 2019 insgesamt 14 Menschen bei Polizeieinsätzen, berichtete die „Bild am Sonntag“ unter Berufung auf Statistiken der Bundesländer sowie der Bundespolizei.
In Südafrika verhallen derart erschreckende Zahlen meist. So wäre es wohl auch im Fall Collins Khosa gekommen, wenn nicht wenige Wochen später die „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM) nach dem Tod von George Floyd in den USA neue internationale Relevanz entwickelt hätte. In Südafrika wurde Collins Khosa zum Synonym von Opfern der Sicherheitskräfte. Bei zahlreichen Demonstrationen hielten Menschen Schilder mit seinem Namen in die Höhe.
Die zeitliche Nähe sei definitiv ein wichtiger Grund für die diesmal so große Empörung gewesen, sagt Khosas Schwager Thabiso Muvhango, beiden Fälle hätten Parallelen, auch wenn es sich bei den Tätern in Südafrika um schwarze Soldaten handelte. „Collins und George Floyd starben durch Sicherheitskräfte, der einzige Unterschied ist das Motiv“, so Muvhango, der ebenfalls geschlagen wurde, „letztlich geht es um den Missbrauch von Macht.“
Die sonst als besonnen geltende Nelson-Mandela-Stiftung machte in einem kontroversen Statement dennoch das Erbe der Apartheid für den Tod von Khosa mitverantwortlich. „Wir müssen die strukturelle Gewalt gegen schwarze Leben berücksichtigen, die sich in Armut und Ungleichheit manifestiert, die ihren Ursprung in Kolonialismus und Apartheid haben“. Es sei auch an der Zeit für eine „nüchterne Bewertung weißer Vorherrschaft in unserem Land, den USA und weltweit“.
Gewaltsame Proteste wie zuletzt besonders in den USA würden „zu bereitwillig als Arbeit von Extremisten und kriminellen Elementen abgetan“, heißt es weiter in der Mitteilung der Stiftung. Die demokratische Geschichte Südafrikas zeige aber, dass Gewalt oft „Resultat vorsichtiger Abwägungen von Gemeinschaften ist, die festgestellt haben, dass nur derartige Aktionen die gewünschte Antwort des Staates hervorruft“. Afriforum, eine erzkonservative Interessenvertretung weißer Südafrikaner, wertete das als einen Aufruf zur Gewalt und kündigte eine Klage an.
Fest steht, dass Polizei und Armee in Südafrika unter lange nicht gekannter Beobachtung sind. Khosas Familie legte mit der Hilfe von Menschenrechtsanwälten Klage ein, als Polizei und Armee den Fall Khosa allzu schnell zu den Akten legen wollten. Die Armee sah trotz der gegenteiligen Zeugenaussagen keinerlei Fehlverhalten. Dabei ist auf den Dokumenten der Ersthelfer nach Angaben der Familie als mögliche Todesursache klar vermerkt, dass stumpfe Gewalteinwirkungen gegen den Kopf vorgelegen habe. Und die Polizei empfahl in ihrem Abschlussbericht lediglich „disziplinarische Maßnahmen“ gegen die beteiligten Polizisten.
Ein Gericht ordnete inzwischen die Wiederaufnahme der Untersuchung sowie die vorläufige Suspendierung der vier beteiligten Soldaten an. Auf der Plattform www.change.org forderten über 250.000 Unterzeichner Präsident Cyril Ramaphosa auf, das Fehlverhalten der Sicherheitskräfte öffentlich einzugestehen.
Bislang hat dieser Druck offenbar wenig Effekt. Am Mittwoch verbreitete sich ein Video in den sozialen Netzwerken, auf dem zu sehen ist, wie die Polizei in Kapstadt einen nackten Mann aus einer angeblich während des Covid-19-Lockdown illegal errichteten Blechhütte zerrt und das Gebäude zerstört. Bürgermeister Dan Plato teilte zunächst mit, die vier beteiligten Beamten seien „umgehend suspendiert worden, während die Angelegenheit ohne Verzögerung untersucht wird“. Die Stadt dulde dieses Verhalten nicht, die Umstände seien „beschämend“. Einen Tag später behauptete er dann aber, der Mann habe sich aus „taktischen“ Gründen ausgezogen, um der Vertreibung aus seiner Hütte zu entgehen – eine erstaunliche Rechtfertigung.
In Soweto, dem größten Township Südafrikas, sitzt eine ältere Frau auf einer Bank und macht sich so ihre Gedanken über die jüngsten Geschehnisse in ihrer Heimat und den USA. Fast jeder kennt ein Foto von Antoinette Sithole als junges Mädchen, sie ist auf der Aufnahme von 1976 zu sehen, die ihren toten, von Polizeikugeln getroffenen Bruder Hector Pieterson beim Soweto-Aufstand zeigen – Sithole läuft schreiend neben einem Studenten, der Pieterson in den Armen trägt. Es ist eines der berühmtesten Fotos in der Geschichte des Landes, ein weltweites Symbol für Unterdrückung und Polizeigewalt. Es entstand wenige Meter von dieser Bank entfernt.
Das Foto erschien wenige Stunden nach den Schüssen auf der Titelseite einer Zeitung. Aber dass es Berühmtheit erlangte und wesentlicher Bestandteil der Anti-Apartheid-Bewegung wurde, das erfuhr Sithole erst drei Jahre später. Nach der Apartheid arbeitete die 61-Jährige dann lange in einer für ihren Bruder errichteten Gedenkstätte, erzählte Tausenden von jenem verhängnisvollen Tag, als der gerade einmal zwölfjährige Hector aus Neugier zu den Protesten mitging und als einer der ersten des blutig niedergeschlagenen Aufstands getötet wurde. Sein Tod war das traumatischste Ereignis ihres Lebens – sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass andere daraus lernen.
„Der Tod von Hector wird nie Sinn machen, aber das Foto von Hector hatte großen Einfluss auf die weltweite Anti-Apartheid-Bewegung. Wir haben laut um Hilfe gerufen, dieses Foto war der erdrückende Beweis.“ Auf der anderen Seite frage sie sich angesichts der aktuellen Ereignisse, ob der Mord an ihrem Bruder wirklich grenzenüberschreitend so augenöffnend war, wie sie lange gedacht hatte. „Natürlich sind die Umstände der Todesfälle von Hector und George Floyd verschieden“, sagt sie. Aber allgemein scheine es in vielen Ländern wieder mehr Rassismus zu geben. „Und noch immer sterben jedes Jahr Menschen durch Rassismus und Polizei. Wann wird das aufhören?“
Zwei Jugendliche kommen vorbei, setzen sich auf eines der Denkmäler für die Opfer des Aufstandes. Sithole unterbricht das Gespräch, scheucht sie regelrecht auf. „Zeigt Respekt“, staucht sie die beiden Jungen wortgewaltig zusammen, „dies ist ein Ort der Erinnerung an die, die für uns gestorben sind.“ Kleinlaut ziehen die beiden weiter.
Sithole kehrt zur Sitzbank zurück. Auch der Tod von Khosa macht sie wütend. Für sie steht der Vorfall exemplarisch für die Tatsache, „dass wir die meisten Dinge noch nicht erreicht haben“. Polizei und Armee seien zwar nicht mehr Teil eines Unterdrückungsstaats, aber sie stelle sich noch immer oft die Frage: „Schützt ihr uns, oder tötet Ihr uns?“
Es fehle zu vielen Sicherheitskräften offensichtlich der Wille, die Gemeinschaft mit aufzubauen, zu der sie selbst gehören, sagt Sithole. Manchmal überlegt sie, wie die Leute in der Nacht schlafen, die für den Tod von Khosa verantwortlich sind. Die Hoffnung hat sie dennoch nicht verloren. „Wir fallen immer wieder hin, so wird es wohl noch Jahrzehnte weitergehen“, sagt sie, „aber wir stehen auch immer wieder auf, bis wir unsere Ideale erreichen.“
Im kleinen Steinhaus der Familie von Collins Khosa ist die Wut noch frisch. „Diese Soldaten müssen lebenslang hinter Gitter“, sagt Montsha. Sie ist davon überzeugt, dass es so kommen wird, endlich gebe es nach einem derartigen Vorfall öffentlichen Druck. „Die Leute haben verstanden, dass jedem das Gleiche wie Collins passieren kann.“ Tausende wollten zu seiner Beerdigung kommen, wegen der Covid-19-Pandemie waren nur 50 zugelassen.
An der Wand hängt noch eine gerahmte Urkunde zu Khosas zehnjährigem Dienstjubiläum bei einer Bäckerei, Khosa konnte sich ein Auto leisten, hatte sich und seine Familie mit harter Arbeit aus der gröbsten Armut herausgekämpft. Bis sein Leben abrupt endete.