Die Angst der Slums vor dem Virus
Während in den Industrieländern bislang nur für eine Minderheit der Menschen die wirtschaftliche Existenzgrundlage gefährdet ist, löst das neuartige Coronavirus in den Armenvierteln Afrikas ganz andere Sorgen aus
Ein Freund hat ihm eine Maske aus einer Fischfabrik geschenkt. Sie schützt dort in erster Linie vor dem Gestank, gegen Covid-19 kann sie wohl nicht viel ausrichten. Aber das Gerät umschließt das ganze Gesicht, man fühlt sich hinter ihr ein wenig sicherer, und deshalb trägt sie der Busfahrer Chleo Cummings. Jeden Tag während der Arbeit, von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends.
Der 30-Jährige sitzt in seinem Kleinbus am Rande des Imizamo Yethu Townships im Kapstädter Vorort Hout Bay und wartet darauf, dass sich das Fahrzeug füllt. Erst wenn die maximale Zahl der 15 Passagiere erreicht ist, fährt er los. „Natürlich habe ich Angst“, sagt Cummings, „wenn mich das Virus erwischt, würde ich vielleicht meine Mutter anstecken und in Gefahr bringen.“
Rund 15 Millionen Südafrikaner nutzen die engen Busse täglich, besonders ärmere Bevölkerungsschichten sind auf sie angewiesen. Die Industrie ist schon in normalen Zeiten kaum zu regulieren – innerhalb der vergangenen zwei Wochen wurden bei Kämpfen rivalisierender Taxi-Vereinigungen in Hout Bay drei Fahrer getötet. Nun ist sie eine der größten Sorgen im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus.
Am Mittwoch wies die nationale Dachorganisation Santaco alle Fahrer des Landes an, ihre Fahrzeuge und Haltestellen täglich zu desinfizieren. Doch es fehlt vielerorts an den von der Regierung versprochenen Reinigungsmitteln. Und die Leute sitzen weiter dicht an dicht gedrängt. Cummings weist jedenfalls niemanden ab. Wer hustet, wird ans offene Fenster gesetzt. Sein Kollege, der den Fahrpreis in bar einsammelt, hat Handschuhe besorgt.
Am vergangenen Sonntag verkündete Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa ähnliche Maßnahmen im Kampf gegen das Virus, wie sie in Europa längst üblich sind: Schulschließungen, Einreiseverbote für Bürger aus Risikoländern, keine Veranstaltungen mit mehr als 100 Menschen, möglichst viel sozialer Abstand.
Da stand die Zahl der bestätigten Infektionen bei 62, am Samstag hatte sie sich innerhalb einer Woche auf 240 vervierfacht, die mit Abstand meisten Fälle in Subsahara-Afrika. Besorgt hatte Cummings über Instagram und Fernsehen verfolgt, dass es sich bei den Infizierten nicht mehr überwiegend um wohlhabende Weiße handelte, die aus Risikogebieten zurückkamen. Die Behörden melden auch vermehrt lokale Übertragungen.
Damit droht das Schreckensszenario, vor dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Monaten warnt: In strukturschwachen Ländern werden bei einer größeren Verbreitung von Covid-19 die Gesundheitssysteme weit schneller kollabieren als in Europa. Besonders in dicht besiedelten Armenvierteln wie Imizamo Yethu wären die Folgen kaum abzusehen. Afrika müsse „dringend aufwachen“, warnte WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus vor einigen Tagen, „der beste Ratschlag an Afrika ist, sich auf das Schlimmste vorzubereiten, und heute damit anzufangen.“
In den vergangenen Wochen wurden die Testmöglichkeiten in allen Ländern Afrikas massiv erweitert. Bislang kam der Kontinent vergleichsweise glimpflich davon: Es gab bislang erst knapp 1100 bestätigte Fälle (Stand 21. März), doch die Zahl hat sich innerhalb der vergangenen Woche nach vermehrten Tests versiebenfacht. Dreiviertel der Nationen sind betroffen, mindestens 16 Menschen starben, darunter eine hochrangige Politikerin aus Burkina Faso. Die Diskrepanz zu den tatsächlichen Fallzahlen dürfte angesichts der nicht ausreichenden Testmöglichkeiten allerdings noch größer sein als in Europa.
Die meisten Regierungen versuchen ihr Möglichstes, reagierten zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Ausbreitung in ihrem Land mit Einreiseverboten und Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Ob das die Katastrophe lindern kann?
In Südafrika beobachtet der deutsche Wissenschaftler Wolfgang Preiser die Ausbreitung des Virus in strukturschwachen Wohngebieten mit großer Sorge. Er leitet die Abteilung für Medizinische Virologie an der Universität Stellenbosch. Preiser geht davon aus, dass sich die Krankheit in Afrika derzeit von einer Infektion der international reisenden Mittelschicht zur ärmeren Bevölkerung verlagert, die keinerlei Isolationsmöglichkeiten hat. „Das wird passieren. Und wie sollen sich ab einem gewissen Punkt dieser Krise Infizierte oder gar Kontaktpersonen isolieren, die mit zehn anderen in einer Blechhütte leben und sich mit Hunderten Nachbarn Wasserhahn und Toiletten teilen“, fragt Preiser, ohne eine Antwort zu erwarten.
Zwar sei Südafrika besser gerüstet, als es in Europa wahrgenommen werde – in den vergangenen Jahren habe das Gesundheitssystem bei der Bekämpfung der HIV-Epidemie erhebliche Fortschritte gemacht. Zudem sei es mehrfach gelungen, Infektionsausbrüche wie das Krim-Kongo-Hämorrhagische Fieber oder Rifttal-Fieber früh und effektiv einzudämmen. Von diesen Erfahrungen werde das Land zumindest in den frühen Stadien der Covid-19-Krise profitieren.
Angesichts von nur 3000 geeigneten Intensivbetten in den Krankenhäusern wird hier die Überlastungsgrenze allerdings rasch erreicht werden. Die meisten anderen afrikanischen Länder haben nur einen Bruchteil dieser Kapazitäten. Durch die weltweite Ausbreitung ist auch die Hoffnung auf ausreichende ausländische Unterstützung begrenzt.
Der Virologe gibt zu bedenken, dass die seit Jahren stagnierende Wirtschaft wenig Puffer hat, trotz des Versprechens der Regierung, Hilfsprogramme auf den Weg zu bringen. Und auch andere Faktoren seien noch nicht absehbar, sagt Preiser. „Für viele Kinder ist die Zeit in der Schule die einzige des Tages, während der sie vor Kriminalität und Verkehrsunfällen in Sicherheit sind – und die einzige Möglichkeit, eine reguläre Mahlzeit zu bekommen“, sagt der Virologe, „die Folgen der Schulschließungen sind hier also deutlich vielschichtiger als in Deutschland.“
Wie gravierend die ökonomischen Effekte in den Armenvierteln schon jetzt sind, das zeichnet sich in Imizamo Yethu mit seinen rund 30.000 Bewohnern ab. Fahrer Cummings hat innerhalb weniger Tage die Hälfte seiner Kundschaft verloren, schließlich fällt der Schulverkehr weg. Dazu schließt ein Gasthaus nach dem anderen und schickt die Belegschaft weg. Die Mittelschichtsfamilien haben ihren Haushaltshilfen freigegeben, immerhin oft bei voller Bezahlung. Zumindest vorerst.
Nur wenige kennen den Township so gut wie Thobeka Mdlalo. Die 41-Jähige ist eine der zahlreichen kreativen Überlebenskünstlerinnen. Ein wenig verdient sie mit selbstgenähter Mode, gelegentlich hilft sie einem Gemeindearbeiter, manchmal führt sie auch Touristen durch den Township. Sonst sind es rund 30 am Tag, am Mittwoch waren es zwei, die ihren Rückflug nach Europa nicht umbuchen konnten: „Sie werden normalerweise sehr herzlich empfangen, jetzt gehen alle auf Abstand. Einige Bewohner haben sogar das T-Shirt über den Mund gezogen.“
Hier in Hout Bay zeigen sich die Parallelwelten in Südafrika mit seinen enormen Einkommensunterschieden besonders ausgeprägt. Und dieser Graben könnte durch die Covid-19-Krise vertieft werden. In den vergangenen Tagen gab es einen Ansturm auf die Supermärkte, Desinfektionsmittel, Klopapier und Nudeln waren zwischenzeitlich ausverkauft. Wirkliche Hamsterkäufe kann sich in den Townships aber kaum jemand leisten.
„Die meisten müssen bis zum Ende des Monats warten, bis sie ihr Gehalt oder Sozialhilfe ausgezahlt bekommen“, sagt Mdlalo. Die leeren Regale können, mit Ausnahme der Desinfektionsmittel, derzeit fast täglich wieder aufgefüllt werden. Das dürfe sich bis zu den Auszahlungstagen nicht ändern, sonst werde die Verunsicherung in Imizamo Yethu weiter zunehmen, sagt Mdlalo.
Erst seit ein paar Tagen verzichten die Leute hier auf einen Handschlag oder eine Umarmung zur Begrüßung. Sie realisieren, dass hier selbst eine einzige unbemerkte Infektion wohl weit mehr Folgeansteckungen als in besser entwickelten Gegenden bedeuten würden.
Doch normalerweise bedürfe es in einer solchen Situation einer großen Bürgerversammlung, um die große Mehrheit der Leute restlos vom Ernst der Lage zu überzeugen, sagt Mdlalo. Das ist angesichts der Versammlungseinschränkungen natürlich unmöglich, und so können sich Gerüchte noch schneller verbreiten als ohnehin. Busfahrer Cummings hat gehört, das Virus habe sich anfangs durch Einführung des Mobilfunknetz 5G in Wuhan verbreitet. Er glaube da nicht dran, sagt er, „aber man weiß ja nie.“ Sein Handy habe jedenfalls nur 4G.
Am Nachmittag steigt Mdlalo schließlich in einen der überfüllten Minibusse. Kundinnen haben neue Kleider bestellt, sie muss Stoffe kaufen. Und ein Auto hat sie nicht. „Mir bleibt keine andere Wahl, als dieses Risiko einzugehen“, sagt sie.