Im Schatten des Tafelbergs
Der Stadtteil „Cape Flats“ von Kapstadt gehört zu den gefährlichsten Bezirken weltweit. Die südafrikanische Regierung hat nun die Armee entsandt, um gegen die mörderischen Gangs ins Feld zu ziehen
Von Christian Putsch (WELT am SONNTAG)
An einem Sonntagmittag um Viertel vor zwölf, hängte Mary Bruce Wäsche auf, als ihr Leben beinahe endete. Sie hatte im Hinterhof ihrer Wohnung eine nasse Jeans in der Hand, als sie den ersten Schuss hörte. Sie duckte sich, dann brach sie beim zweiten Schuss zusammen. Er hatte ihr linkes Bein getroffen, eine Arterie beschädigt.
Ein Irrläufer. Mitglieder von zwei Gangs hatten sich zwischen den Wohnblöcken beschossen. Bruce, 48, diese robuste dreifache Mutter, lag hilflos unter der Wäscheleine. Ihre Rufe hörte niemand, zu sehr waren die Anwohner damit beschäftigt, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Endlich fand sie ihr Mann. Mary Bruce überlebte dank Bluttransfusionen.
Drei Wochen später liegt die Frau im Schlafzimmer ihres Apartments in Hanover Park, einer der berüchtigtsten Gegenden der „Cape Flats“. Diese Armenviertel Kapstadts liegen 20 Kilometer von den idyllischen Touristenvierteln entfernt, dank derer die Metropole im vergangenen Jahr 2,6 Millionen internationale Besucher vermeldete. Vor ihnen bleiben die sozialen Brennpunkte, in die während der Apartheid nicht-weiße Bewohner zwangsumgesiedelt wurden, verborgen.
Eine halbe Million Menschen wohnen in den Cape Flats auf engem Raum. Die Gewalt dort ist der Hauptgrund, dass Kapstadt in der Rangliste der 50 Großstädte mit den meisten Tötungsdelikten des Jahres 2018 weltweit Rang elf belegte – mit ähnlichen Mordraten wie Städte in Lateinamerika, die ebenfalls unter Drogen- und Gangproblemen leiden.
Erst als in diesem Jahr die Zahlen weiter enorm stiegen, reagierte die nationale Regierung auf Drängen der Stadt. Im ersten Halbjahr gab es 2302 Morde in Kapstadt – 1600 davon in den Cape Flats, 900 hatten klaren Bezug zu Bandenkriminalität. Das bedeutet in einigen der Gegenden eine Verdoppelung.
Statistiken wie in Kriegsgebieten. Und im Juli entsandte Präsident Cyril Ramaphosa tatsächlich die Armee zur Unterstützung der Polizei. Soldaten rollen seitdem in gepanzerten Fahrzeugen durch zivile Gebiete. Ein umstrittenes Instrument der letzten Hoffnung, das in den letzten Tagen auch wegen fremdenfeindlicher Übergriffe auf afrikanische Migranten in Johannesburg diskutiert wurde. In Brasilien sind derartige Einsätze in den Favelas schon übel eskaliert.
Die schwer verletzte Mutter Bruce begrüßt die Entscheidung dennoch. „Es wird noch immer geschossen, aber die Leute trauen sich wenigstens, wieder aus den Häusern“, sagt sie, „die Sicherheitskräfte müssten noch viel mehr Präsenz zeigen.“
1300 Soldaten sind bis Oktober bewilligt, dochbei unserer Recherche kommt nur ein Armee-Fahrzeug entgegen.Mitte August nannte das Verteidigungsministerium den Einsatz „einen Erfolg“. Es habe über 1000 Verhaftungen gegeben, die Soldaten hätten „den Zugang zu Gegenden mit Gewalt wieder möglich gemacht“. Ein Soldat wurde dabei getötet.Der unermüdliche Stadtrat für Sicherheit, Jean Pierre Smithspricht von einer „Abnahme der Tötungsdelikte in den Cape Flats seit der Armee-Entsendung“. Lediglich kurzfristig sei dies die beste Lösung: „Die nationale Regierung muss die ernsten Probleme innerhalb der Polizei und der Justiz angehen.“
In Hanover Park steuert ein Kontaktmann den Wagen zu einem Reihenhaus. Hier wohne Duncan, genannt „The Lord“, ein hochrangiges Mitglied der Gang „Ghetto Kids“, die sich in der Gegend als dominierende Gang behauptet.
Auf einer Banksitzt ein großer, sehniger Mann Anfang 30 im Trainingsanzug. Bereitwillig erzählt „The Lord“ von seinen Gefängnisaufenthalten: „Mal drei, mal fünf Jahre.“ Ja, er sei Mitglied der Ghetto Kids, auch der „27s“, einer Gefängnisgang, die Nummer 27 hat er sich auf den Brustkorb tätowieren lassen. Zeichen der in diesen Kreisen so existenziellen Loyalität. Er werde beiden Gangs immer angehören, sagt er, sei aber trotzdem kein Verbrecher mehr. Geht das zusammen? Duncan schweigt.
Armee und Polizei haben auch sein Haus durchsucht. Ohne Durchsuchungsbefehl, wie er sagt, sie hätten ihn vor seinen Kindern auf den Boden auf den Boden gedrückt. Von den Soldaten sei ihm zudem Munition untergeschoben worden, die sie zwei Häuser weiter gefunden hätten – „damit sie was vorzuweisen haben“. Wenn es etwas zu verstecken gäbe, sagt Duncan, wäre er sicher nicht so dumm, das zu Hause zu tun. Letzte Woche war Gerichtstermin. Er bleibt vorerst auf freiem Fuß.
Duncan bittet in sein Haus. „Wir haben alle kleine Kinder“, sagt er und meint die sich bekriegenden Gang-Mitglieder, „alle wollen aufhören mit diesen Schießereien.“ Das Problem sei die Rache, so Duncan. Wird jemand von den Ghetto Kids getötet, ist Vergeltung Pflicht.
Seine Mutter und seine Frau stehen im Wohnzimmer. Höflich fragt die Mutter, ob man von einem Job als Fliesenleger wisse. Der makellose Boden und das Badezimmer seien Duncans Werk. In den Cape Flats sind über die Hälfte der jungen Erwachsenen arbeitslos. Beim Abschied sagt der Gang-Anführer, dass er an Friedensverhandlungen mit anderen Gangs teilnehmen werde.
Im ersten Stock eines nahegelegenen Gemeindezentrums sitzt ein Mann im Anzug an einem Laptop. Aus dem Lautsprecher des Geräts sind Schüsse zu hören. Craven Engel ist Leiter der Bürgerorganisation „First Community Resource Centre NPC“. Sie soll eigentlich Mahlzeiten an Bedürftige ausliefern und bei Job-Bewerbungen helfen. Aber Engel hat eine Software auf seinem Rechner, die über an den Straßen installierte Detektoren Schüsse lokalisiert.
„Seit die Armee da ist, sind es in einigen Gegenden 50 Prozent weniger Schüsse geworden“, sagt er. An einen Erfolg glaubt er dennoch nicht. Zwar gebe es nun mehr Verhaftungen, aber Justiz und Gefängnisse seien ohnehin überfordert – oft würden Verdächtige deshalb wieder laufengelassen. Man müsse zudem Alternativen schaffen, sagt Engel, „wenn du ihnen die Pistole aus der Hand nimmst, musst du ihnen etwas Anderes in die Hand geben.“
Er ist sauer, dass für die Logistik des Einsatzes 1,5 Millionen Euro bewilligt wurden, aber kein Geld mehr für eines seiner wichtigsten Projekte da sein soll. Die „Ceasefire“-Initiative, übersetzt Waffenstillstand, half Gang-Mitgliedern beim Ausstieg aus der kriminellen Szene, vermittelte Berufsausbildungen. Mediatoren schlichteten zudem bei Konflikten. Engel sagt, die Initiative habe die Auseinandersetzungen zunächst mancherorts „auf null“ gesenkt.
Vor zwei Jahren aber beendete die Stadt die Finanzierung. „Wir versuchen so gut wir können, die Community nicht im Stich zu lassen“, sagt Engel. Doch für die Organisation der Friedenstreffen rivalisierender Gruppen fehlen nun die Mittel. Auch deshalb habe die Gewalt im vergangenen Jahr so zugenommen.
Irgendwie schafft es Engel dennoch, die Hoffnung aufrecht zu erhalten. Sogar der angeschossenen Mary Bruce gelingt das in ihrem Krankenbett. Sie hat vor fünf Jahren begonnen, Jugendliche zu Ausflügen einzuladen. Auslöser für die Gründung der Gruppe war damals der Mord an ihrem Sohn, einem Bandenmitglied.
„Gott hat mir meinen Sohn genommen, aber diese Jugendlichen gegeben“, sagt Bruce. Viel Geld bleibt dafür nicht, ihr Mann, ein LKW-Fahrer, ist Alleinverdiener der Familie. Er hilft so gut er kann. Fast täglich kommen die Kinder in diesen schweren Tagen ans Krankenbett. Sie nennen sie Schwester.
Vor einigen Tagen ging es ihr besonders schlecht, die Wunden hatten sich entzündet. Eine 13-Jährige kam zu Besuch. Bruce erzählte ihr von den Schmerzen. Und dass sie in den Stunden nach den Schüssen beinahe das Bein verloren hätte. Das Kind fragte unvermittelt:
Da wusste die Frau, dass sie stark bleiben würde.