Land der Kinder
In keiner Nation haben Frauen so viele Kinder wie im Niger. Lange verweigerten sich Politik und Religion dem Thema. Inzwischen versucht zumindest der Präsident, das Bevölkerungswachstum zu bremsen. Und stößt auf Widerstand
Die Sache mit der Familienplanung liege nicht in seiner Macht, sagt Mahamadou Abdoulaye. Das sei allein die Angelegenheit Gottes. „Wir können ihm nur danken“, sagt der Vater von elf Kindern, „jeder Mund, den der Herr öffnet, wird von ihm auch etwas zu essen bekommen.“
Zum ersten Mal wurde der Schreiner aus Nigers Hauptstadt Niamey im Alter von 18 Jahren Vater, seine Frau war genauso alt. Länger zu warten kam nicht in Frage. „Unmittelbar nach den Hochzeitszeremonien muss jeder Mann beweisen, dass er wirklich ein Mann ist“, sagt er. Da solle ihm auch niemand reinreden, „ich brauche als Familienoberhaupt keinen Rat“. Sieben weitere Babys gebar die Frau, dann heiratete er ein zweites Mal, es kamen drei weitere Kinder hinzu. Moderne Verhütungsmittel gebe es im örtlichen Gesundheitszentrum, sagt Abdoulaye. Benutzt haben er oder seine Partnerinnen sie selten. Eine große Familie sei gleichbedeutend mit Respekt.
Im Niger gibt es dieser Definition zufolge viele angesehene Familien. Im Schnitt hat eine Frau sieben Kinder, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die Bevölkerung wächst jährlich um 3,8 Prozent – auch das ist Rekord. Das Durchschnittsalter beträgt 15 Jahre. Selbst in Westafrika, wo sich viele Länder mit hohem Bevölkerungswachstum befinden, sticht der Niger hervor.
Das ist auch ein Ergebnis langer politischer Instabilität. Zwischen den Jahren 1974 und 2010 gab es vier gewaltsame Umstürze, die dafür sorgten, dass Hilfsorganisationen die Zelte abbrechen mussten und große Teile des Landes keine staatliche Anbindung bekamen. Erst seit den vergangenen zehn Jahren gilt der Niger als eine der stabileren Nationen in der Region und ist strategischer Kooperationspartner der Europäischen Union im Kampf gegen illegale Migration.
Die besonderen Herausforderungen des Landes erlebt Marie Ba immer wieder. Sie leitet die Ouagadougou Partnership (OP), ein 2011 gegründeter Zusammenschluss von Regierungen und Hilfsorganisationen, mit dem in neun westafrikanischen Ländern der Zugang und Gebrauch von Verhütungsmitteln verbessert werden soll. „Kinder gelten als Quelle des Wohlstands und der sozialen Absicherung“, sagt sie, „Politiker können es sich kaum leisten, das in Frage zu stellen.“
Der Niger hinkt den vereinbarten Zielvorgaben zur Bereitstellung von Verhütungsmitteln hinterher. Warum das so ist, erlebte Ba bei einem Besuch mit einer Delegation aus Geberländern im Jahr 2017. Kein Minister hatte für sie Zeit, lediglich einige Parlamentarier: „Wir freuen uns, wenn ihr euch an Infrastrukturprojekten beteiligen wollt“, sagte einer von ihnen, „aber erzählt uns nicht, wie viele Kinder wir haben sollen.“
Ba und ihre Mitarbeiter versuchen, diese Haltung zu ändern. Sie arbeiten auch verstärkt mit Imamen zusammen, die oft einflussreicher als Politiker sind – und wegen des Einflusses aus Saudi-Arabien und Katar eine zunehmend strenge Version des Korans predigen.
„Es gibt Imame, die den Koran so interpretieren, dass Frauen möglichst viele Kinder haben sollen“, sagt Ba. Sie hält dann dagegen, dass mehrere Verse vorschreiben, die Gesundheit der Frauen sicherzustellen. „So haben wir erreicht, dass mehr Imame zumindest gegen Geburten im Teenageralter argumentieren und zwei Jahre Abstand zwischen Geburten empfehlen.“ Das sei bereits ein Erfolg.
Doch diese Kooperationsbereitschaft stößt schnell an ihre Grenzen. Im Jahr 2018 wollte die Regierung die Sexualkunde verstärkt in den Lehrplan der Schulen etablieren. Obertitel: „Vollständige sexuelle Erziehung.“ Einflussreiche Imame reagierten mit einer Fatwa, die das Anliegen untersagte. Die Schule sei nicht der Ort, Derartiges zu besprechen. Zudem gab es die Befürchtung, dass mit „vollständig“ auch Homosexualität gemeint sei. Das Programm wurde umbenannt.
„Wir müssen unsere Kämpfe sorgfältig aussuchen“, sagt Ba, „es ist auch völlig unmöglich, dass Imame im Niger über Sex außerhalb der Ehe sprechen.“ Das gelte auch in anderen Ländern als Tabu. Im Senegal gaben in einer Umfrage nur zwei Prozent der 15 bis 24-jährigen Mädchen und Frauen zu, dass sie sexuell aktiv sind. „Kaum einer gibt das bei einer öffentlichen Befragung zu“, sagt Ba, „das Problem ist, dass wir auch wegen dieser Tabus zu wenige verlässliche Daten haben.“
Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Als Ba im vergangenen Jahr wieder in den Niger reiste, hatten plötzlich zehn Minister Zeit. Die Politiker ärgerte es, dass der Niger auch wegen der mangelnden Investitionen in Maßnahmen der Familienplanung im UN-Index für menschliche Entwicklung an letzter Stelle rangiert. „Sie wissen, dass das schlecht für das Image ist“, sagt sie, „und es verbaut auch den Weg für Fördermittel. Die Mentalität hat sich definitiv verändert.“
Vor allem werden aber die politischen Herausforderungen immer offensichtlicher. „Eine derart junge Bevölkerung bedarf großer Ausgaben im Bildungssektor und den Krankenhäusern“, sagt Ba. Hinzu kommen die gewaltigen Ausgaben für die Sicherheit in der instabilen Region – an den Grenzen zu Mali und Burkina Faso gibt es seit Jahren islamistische Bedrohung. Es sei klar, dass es nicht annähernd genug Arbeitsplätze für die Jugend gibt, sagt Ba. Extremisten würden so gute Bedingungen für Rekrutierungen vorfinden.
Familienvater Abdoulaye ist dennoch fest davon überzeugt, dass alle seine Kinder ihren Lebensunterhalt bestreiten werden können. Einige gehen in die Schule, einige lediglich in die Madrasa – Koranschulen. An den Wochenenden helfen die größeren schon jetzt in seiner Werkstatt, in der er Möbel herstellt. „Manche meiner Söhne werden wie ich Schreiner werden, andere Automechaniker, vielleicht wird einer selbst in einer Koranschule arbeiten“, sagt Abdoulaye, „es werden sich Wege finden.“
Zumindest bei Präsident Mahamadou Issoufou gibt es jedoch inzwischen Zweifel, dass das für alle Kinder seines Landes gilt. In den vergangenen beiden Jahren hat er sich auffällig öffentlich für Familienpolitik eingesetzt – wohl auch, so vermutet es Ba, weil er nach zwei Amtszeiten bei den Wahlen im Dezember nicht mehr antreten wird. Mehrfach versuchte er, das Mindestalter für Eheschließungen anzuheben. Es beträgt für Mädchen gerade einmal 15 Jahre. Für eine derartige Gesetzesänderung bedarf es allerdings der Zustimmung des Parlaments, das immer wieder ablehnte. Per Präsidentendekret verfügte Issoufou schließlich, dass Mädchen nach einer Eheschließung nicht mehr aus der Schule genommen werden dürfen. Ein kleiner Fortschritt.
Im Gespräch mit der WELT betont Ataka Zaharatou, die Generalsekretärin im Ministerium für Bevölkerung, die Ernsthaftigkeit der Regierungsbemühungen. „Das Bevölkerungswachstum verlangsamt die Verbesserung der Entwicklungsindikatoren“, sagt sie, „es ist noch nicht gelungen, ausreichende Unterrichtsmaterialien und genug qualifizierte Lehrer zur Verfügung zu stellen.“ Hinzu komme, dass nur elf Prozent für die Landwirtschaft geeignet seien, der zunehmende Bevölkerungsdruck sorge für eine Übernutzung des Bodens und Erosion. So sei auch die Ernährungssicherheit gefährdet.
In gewisser Hinsicht sei das hohe Bevölkerungswachstum aber auch Zeugnis von Erfolgen im Gesundheitssektor, sagt Zaharatou. Denn einer der Gründe für das Bevölkerungswachstum sei die enorme Verringerung der Kindersterblichkeit – das einzige Milleniums-Entwicklungsziel, das der Niger erreicht hat. Auf dem Land gilt dennoch oft weiter die Annahme, dass von sieben Kindern zwei womöglich ihr fünftes Lebensjahr nicht erleben werden.
Die Bekämpfung derartiger Ängste und Durchbrechung von Tabus hat sich die lokale Hilfsorganisation „Animas Sutura“ zur Aufgabe gemacht, ein Verband für Sozial-Marketing. Die 55 festen Mitarbeiter, die von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) mitfinanziert werden, haben ein Vertriebsnetz für Kondome und moderne Verhütungsmittel aufgebaut. Sie helfen Frauen in Dörfern bei Initiativen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und versuchen vor allem eines: so viele Menschen zu informieren wie möglich.
Doch der bitterarme Wüstenstaat Niger hat beinahe die vierfache Fläche Deutschlands. Nur jeder fünfte lebt in Städten. „Unsere Möglichkeiten sind begrenzt, Dörfer sind zum Teil nicht leicht erreichbar“, sagt Mahazou Mahaman, Direktor für Entwicklung bei „Animas Sutura“. Auf dem Land aber ist die Geburtenrate besonders hoch.
So greift die Organisation zu ungewöhnlichen Mitteln: Die im Land ungemein populären Ringer werben für Kondome. „Die Botschaft ist: Schaut her, selbst die stärksten Männer im Land nutzen Kondome“, sagt Mahaman, „seitdem ist es viel einfacher geworden, über HIV/AIDS Prävention und Verhütung zu sprechen. Und die Leute haben verstanden, dass es nicht nur um Schutz vor Krankheiten, sondern auch um Familienplanung geht.“ Die wichtigsten Kämpfe verfolgen immerhin sechs Millionen Menschen im Fernsehen und am Radio, das ist fast jeder dritte Bürger.
Bei der Familie von Abdoulaye zeigen diese Maßnahmen bislang wenig Wirkung. Er hofft auf weiteren Nachwuchs. Ungewöhnlich ist das nicht, obwohl er schon elf hat. Im Schnitt wünscht sich eine Frau im Niger neun Kinder, ergab eine Umfrage, der Mann elf.
(Text mit Djibo Issifou, Foto: Djibo Issifou)