Das Telefon der Schlepper klingelt wieder
Am meisten hat er die Anrufe aus Italien vermisst. Das Lebenszeichen seiner Kunden nach der Fahrt von Nigers Wüstenstadt Agadez durch die Sahara und – noch gefährlicher – der Überquerung des Mittelmeeres. Souleymane Sanda, 46, machte das stolz. „Die Leute haben mir vertraut“, sagt der Schlepper, „jeder Anruf bedeutete, dass meine Kontakte auf die Sicherheit achten.“ Und neue Einkünfte. Die um Ersparnisse und Todesangst erleichterten Migranten versprachen, seine Nummer an Freunde und Verwandte in der Heimat weiterzugeben.
Jetzt, nach sieben langen Jahren, kommen die Anrufe wieder. Vor allem aus Benin und Gambia. Nigers Militärjunta hat vor einigen Monaten zum Entsetzen der Europäischen Union (EU) ein Gesetz aufgehoben, das die Beförderung von Migranten in Richtung der Grenzen zu Libyen oder Algerien unter Strafe stellte. Wie damals hat er vor zwei Monaten ein Haus in Agadez für die Unterbringung von Migranten angemietet. „Ghetto“ nennt er das, weil seine Gäste dort regelrecht zusammengepfercht werden. Seine Telefonnummer zirkuliert erneut in Westafrika. Und Sanda antwortet, kassiert neben der Miete Kommission von den Fahrern. Er hat vier Frauen und neun Kinder zu ernähren.
An einem Mittwochmorgen erklärt sich der drahtige Tuareg im Büro eines Mittelmannes zum Gespräch per Videoschalte bereit. Es ist ein ruhiger Tag, wie eigentlich jeden Mittwoch. Denn die wöchentlichen Konvoys der über 100 Geländewagen und Kleinlaster, auf denen sich jeweils bis zu 40 Armutsmigranten drängen, brechen immer dienstags nach Libyen auf, sein Ghetto leer. Sanda hat also Zeit, will über sein Leid in Agadez der vergangenen Jahre sprechen. Und sich vor allem nicht für sein Handwerk schämen, nur weil es der EU nicht passt. Seit Jahrhunderten würden die Tuareg Handel und Transportdienste in der Sahara betreiben, sagt er. Das sei kein Verbrechen.
Das Auf und Ab des Schleppers Sanda zeigt die Kluft zwischen den Interessen des Westens gegenüber den vom Terrorismus bedrohten Sahelstaaten – und denen vor Ort. Besonders am Niger zerren die globalen Mächte. Russland, mit dem auf nigrisches Uran schielenden Iran im Schlepptau, scheint sich durchzusetzen. Nach der verhassten Ex-Kolonialmacht Frankreich stehen die mit über 1000 Soldaten und Drohnen im Niger vertretenen USA vor dem Rauswurf, nachdem man sich gegenüber der Junta über die Ankunft russischer Militärausbildern echauffiert hatte.
Europa sehen sich die Generäle in diesen Tagen wahrlich nicht mehr verpflichtet. Insgesamt über eine Milliarde Euro hatte die EU zur Umsetzung des Anti-Schlepper-Gesetzes mit dem schmucklosen Namen „2015-36“ in den Niger überwiesen, weil es das letzte einigermaßen demokratische Transitland für die Migranten vor dem zerfallenen Libyen war.
Sieben Jahre lang funktionierte der rechtlich fragwürdige Deal. Die westlich orientierte Regierung in der Hauptstadt schickte verlässlich Patrouillen in den Norden ihres riesigen Landes, verhaftete Hunderte Schlepper, beschlagnahmte ihre Geländewagen. Das stoppte die Durchreise Hunderttausender Migranten, aber auch viele Saisonarbeiter aus dem Niger selbst, die traditionell für einige Monate in Libyen arbeiten und dann meist zurückkommen. Auch deshalb war die Wut im Norden des Landes groß auf die EU.
Doch nach dem Putsch im vergangenen Juli endeten die Zahlungen aus Europa. Dann die Patrouillen. Und schließlich die Gültigkeit der entsprechenden Gesetze. Das liegt auch an der Rolle der Tuareg, die traditionell die meisten illegalen und legalen Geschäfte in der Sahara kontrollieren. Den Widerstand des rebellischen Nomadenvolks müssen die Generäle seit der Aufhebung des Gesetzes wohl nicht befürchten – über eine Million Tuareg gibt es im Niger, mehr noch als im benachbarten Mali, wo sie mit Gewaltnach Unabhängigkeit streben.
Auch im Niger wurde die Tuareg-Stadt Agadez zwar lange marginalisiert, wie die meisten Gegenden der Sahelzone, in denen Nomaden das Sagen haben. Doch in diesen Tagen sitzt der Groll dieser „Herrscher der Wüste“ gegen Europa tiefer. Die Legalisierung der Migrantentransporte hat Männer wie Sanda zumindest vorerst zu Junta-Unterstützern gemacht.
In Agadez, knapp 1000 Kilometer von der Hauptstadt Niamey entfernt, galt es als leeres Versprechen, dass mit dem Geld aus Europa mehr als nur die Eindämmung der Migration finanziert wird. Von neuen Jobs war bei den vielen Staatsbesuchen aus Europa die Rede – besonders für die Schlepper. Gar von einem Marshallplan sprach die deutsche Regierung in Erinnerung an das eigene Wirtschaftswunder der 1950er Jahre.
Als Beispiel für gelungenes Erwartungsmanagement wird dieses Narrativ nicht in die Geschichte eingehen. Europas Millionen finanzierten die Patrouillen und reduzierten die Zahl der durchreisenden Migranten ab dem Jahr 2016 zunächst tatsächlich erheblich. Doch der größtenteils aus der Sahara bestehende Niger, dessen Geografie die weltweit schlechtesten Faktoren für Wirtschaftswunder bietet, rangierte weiter unter den zehn ärmsten Ländern der Welt.
Und Sanda stand vor dem Nichts. Bis dato war er ein angesehener Mann in Agadez, brachte monatlich umgerechnet über 600 Euro nach Hause. Das machte ihn nicht zu einem der großen Fische im Teich der Schlepper, aber doch zu einem mit einem Vielfachen des Durchschnittseinkommens. „Das betraf ja nicht nur mich“, sagt Sanda, „sondern auch die Leute, die an meinem Ghetto mitverdienten. Die Verkäufer von Wasser, Essen oder Handyguthaben, die Motorradtaxis, wir alle standen auf der Straße und wussten nicht, wovon wir leben können.“
Monatelang bewarb er sich für von der EU finanzierte Programme, wollte eine Motorrad-Werkstatt eröffnen. Viermal vergeblich, ohne nähere Begründung für die Absage. Dann gab er auf, verkaufte Benzin auf dem Schwarzmarkt, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mächtigere Schlepper versuchten den Ausstieg erst gar nicht, schließlich hatten die Hilfen nie das Potenzial, vergleichbare Einnahmen zu generieren. Die Menschenschmuggler machten trotz der drohenden Verhaftungen und Beschlagnahmungen weiter. Immer weiter hielten sie sich wegen der Patrouillen von den gängigen Routen und Wasserlöchern fern, immer gefährlicher wurde die Reise.
Die Zahl der Reisenden durch den Niger in Richtung Libyen war zwar nach den hohen Werten von 2016, als laut Messungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) knapp 300.000 in Richtung Libyen zogen, zunächst deutlich gesunken: auf unter 50.000 jährlich. Allein seit Anfang Januar dieses Jahres sind mehr als 160.000 Migranten Richtung Norden gezogen gekommen, berichteten UN-Mitarbeiter vor einigen Tagen bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Veranstaltung in Agadez, davon etwa 40.000 nach Algerien und der Rest nach Libyen. Neben Saisonarbeitern aus dem Niger sind Nigerianer die größte Gruppe mit zwölf Prozent, die es in der Regel nach Europa zieht. In Deutschland allein gibt es etwa 14.000 ausreisepflichtige Nigerianerinnen und Nigerianer.
Doch danach stieg die Zahl wieder. Im Jahr 2022, also noch vor dem Sturz der Regierung, auf 109.000.
Die IOM in Niger schickte auf Anfrage bis Redaktionsschluss keine aktuelleren angefragten Zahlen, doch es spricht einiges dafür, dass sich der Trend fortsetzte. Im vergangenen Jahr wurden die meisten illegalen Grenzüberschreitungen nach Europa (380.000) seit dem Jahr 2016 registriert, über 40 Prozent kamen davon über die zentrale Region des Mittelmeeres und damit mehrheitlich aus Libyen.
Das Migrationsgeschäft der Sahara ist jedenfalls wiederbelebt. Der Bürgermeister von Agadez frohlockte gegenüber „Al Jazeera“, dass sich wieder 98 Prozent der Migrantenbeförderer registrieren würden, was pro Fahrzeug umgerechnet rund 23 Euro kostet. Dafür bekommen die Fahrer Geleitschutz durch die Armee. Die Behörden erklären die Eskorten mit der Sicherheit, tatsächlich gab es vor einigen Wochen einen Überfall auf die Kolonne. Ganz nebenbei aber verdienen auch die Soldaten wieder an den Migranten, von denen sie kleinere Beträge kassieren.
An alte Einkünfte kann Sanda derweil nicht anknüpfen, bislang betragen sie unter Hundert Euro pro Woche. Seine Netzwerke sind noch etwas eingerostet. Vor allem aber ist die Konkurrenz riesig. „Während das Gesetz galt, hatten alle Angst“, sagt Sanda, „nun will jeder mitmachen, der Profit ist niedrig.“ Selbst die Fahrer würden längst nicht so viel wie in der Zeit vor dem Gesetz verdienen.
Doch Schlepper Sanda hat keine Zweifel, dass sein Geschäft bald wieder auf dem alten Stand sein wird. Im Februar hat der westafrikanische Staatenbund „Ecowas“ die Sanktionen aufgehoben, die im vergangenen Juli nach der Machtergreifung des Militärs verhängt worden waren. Eine Kapitulation vor der Putsch-Epidemie in Westafrika. Damit sind auch die Grenzen zu den südlichen Nachbarländern wieder offen, ihre monatelange Schließung hatte die Einreise von Migranten auf dem Weg nach Libyen erschwert.
„Es kommen jetzt seit ein paar Wochen deutlich mehr Migranten nach Agadez“, sagt der Schlepper. Er blickt auf sein Handy, wo neue Nachrichten seiner Kundschaft aufpoppen. Darunter sind auch wieder die ersten Danksagungen aus Italien.