Die Gesichter des brutalsten Krieges – über den niemand spricht
Über zwei Jahre lang waren die sechs Millionen Menschen des aufständischen äthiopischen Regionalstaats Tigray von der Welt abgeschottet, blockiert von der Zentralregierung, vergessen im Schatten des Ukraine-Krieges. Nun gibt es Hoffnung auf Frieden – doch wie soll das funktionieren nach Hunderttausenden Toten? Zwei Opfer dieses Krieges suchen nach einer Antwort. Und ein Profiteur
Als der Krieg vor zwei Jahren in sein Dorf kommt, äthiopische Soldaten Dutzende Bauern und einen Priester töten, einen Mann und fünf Geschäfte verbrennen, Leichen von Hyänen gegessen werden, da ahnt Chief Abraha Miruts nicht, dass seinen Leuten das Schlimmste noch bevorsteht. Leises, langsames Sterben.
Abraha, der ein hagerer Mann um die 60 mit tiefen Falten ist, hat das Unheil schon Wochen vorher befürchtet. Unscheinbar ist die Ortschaft, eine lehmige Straße, in den simplen Steinbauten mit Blechdächern verkaufen sie etwas Essen und Waren, in der umliegenden Hügellandschaft entziehen Bauern dem schroffen Boden gerade genug für die eigene Familie. Teshi ist kein Ort, an dem Kriege entschieden werden.
Doch das Dorf liegt nur 60 Kilometer südwestlich von Tigrays Regionalhauptstadt Mekelle und direkt neben einem wichtigen Pfad zu einer undurchdringlichen Gebirgskette, wo die äthiopische Armee die geflüchteten Anführer der Volksbefreiungsfront von Tigray, der TPLF, vermutet. Sie hatte als wichtigste Regierungspartei lange die Politik Äthiopiens dominiert, bis sie der neue Premierminister Abiy Ahmed vor vier Jahren aus der Regierung drängte, ihren Einfluss auf die Kontrolle des äthiopischen Regionalstaats Tigray beschränkte und auch dort das föderal zugesicherte Budget einstampfte.
Aus einem politischen Machtkampf wird schnell einer der brutalsten Kriege der vergangenen Jahrzehnte. Lauft, wenn die Soldaten kommen, hat Abraha den Bauern der Gegend immer wieder gesagt. Lauft – und lasst Euch nicht finden.
Doch der Krieg erreicht das Dorf dann im Dezember 2020 überraschend plötzlich, ohne Vorwarnung. Seit Wochen hat die Regierung Strom und Handynetze in dem Regionalstaat abgestellt, Zufahrtswege nach Tigray blockiert, sechs Millionen Menschen eingekesselt. Abraha hofft kurz, dass die Soldaten an dem unscheinbaren Dorf vorbeiziehen. Doch sie bleiben. Und durchsuchen jedes Haus, auch in den weit verstreuten Farmhäusern, wo viele der Bauern ihr Familienkapital, die Rinder, nicht zurücklassen wollten. „Wo ist Debretsion Gebremichael“, fragen sie nach dem TPLF-Anführer. Eine Antwort bekommen sie von den Bewohnern nicht. 52 von ihnen sterben.
Derartige Massaker ereigneten sich in den vergangenen beiden Jahren an zahlreichen Orten. Menschenrechtsorganisationen ordnen allen beteiligten Seiten massive Kriegsverbrechen zu: den Armeen Äthiopiens und Eritreas, die sich gegen die TPLF verbündet haben. Aber auch den rund 200.000 Kämpfern der Tigray Defense Forces (TDF), die unter dem Oberkommando der TPLF zwischenzeitlich in die benachbarten Regionen Amhara und Afar eingedrungen waren.
Besonders Eritreas Diktator Isaias Afwerki, 76, hat die Vernichtung der TPLF spätestens seit dem Jahr 1996 zum Lebensziel erkoren. Seinerzeit, wenige Jahre nach der blutig erkämpften Unabhängigkeit seines Landes von Äthiopien, organisierte der damalige äthiopische Ministerpräsident Meles Zenawi (TPLF) einen Hubschrauber, der Isaias von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba nach Ertrea bringen sollte.
In der Luft fing der Motor Feuer, was Isaias trotz einer gelungenen Notlandung als Mordkomplott interpretierte. Eine seit Jahrzehnten schwelende Feindschaft und Streit um die Grenze zwischen Eritrea und Tigray weitete sich in puren Hass, der zuerst zu einem Krieg im Jahr 1998 und schließlich auch zur Eskalation der aktuellen Krise beigetragen hat.
Bis zu 600.000 Menschen kamen in den vergangenen beiden Jahren ums Leben, die große Mehrheit in Tigray, schätzt die belgische Universität Ghent auf der Basis von Forschungen. Die meisten davon Zivilisten, vor allem durch die indirekten Folgen wie ausgefallene Ernten und die Blockade der Lieferungen von Lebensmittelnothilfen und Medizin. Die horrende Zahl ist umstritten, wird aber inzwischen auch von der Afrikanische Union verwendet. Es wäre ein Vielfaches der in der Ukraine getöteten Zivilisten.
Rund sieben Millionen Tigrayer gibt es in Äthiopien, jeder elfte davon hat den Krieg also womöglich nicht überlebt. Der Direktor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, der selbst zur Tigray-Ethnie gehört, warnte noch im Oktober 2022 kurz vor dem Friedensabkommen vor einem drohenden Genozid angesichts der Einkesselung seiner Heimat.
Nur mitbekommen hat das alles kaum jemand. Wegen der Informationssperre Äthiopiens, das offiziell noch immer keine Journalisten außer den eigenen Staatsmedien nach Tigray lässt – Recherchen wie diese sind weiterhin nur über informelle Wege möglich. Mehr noch aber, weil der Krieg lange als interner Konflikt mit begrenzter geopolitischer Relevanz wahrgenommen wird. Ohne beteiligte Atommacht, wie bei Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. „Wir beschweren uns zu Recht über das, was in der Ukraine passiert, aber was sich in Äthiopien ereignet, ist wirklich schrecklich“, sagt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Dezember, obwohl da gerade ein Friedensvertrag zwischen Äthiopien und Tigray unterschrieben worden war. „An keinem anderen Ort der Welt gibt es eine solche Sterblichkeit durch einen Krieg.“
Borrells deutliche Wortmeldungen mögen die EU-Beziehungen mit Äthiopiens Regierungen belasten, die dem Westen und vor allem den USA lange Parteinahme für die TPLF vorwirft. Sie dienen aber als dringlicher Hinweis, dass die Lage in Äthiopien gesteigerter Aufmerksamkeit bedarf.
Und das nicht nur aus humanitären Gründen. So versucht etwa Russland seinen Einfluss in der Region am Horn von Afrika auszubauen, besonders in Äthiopiens Nachbarland Eritrea, wo der Kreml wie auch im Sudan gerne seine Militärpräsenz ausbauen würde – also jeweils am Roten Meer, über das 25 Prozent der deutschen Wirtschaftsflüsse nach Asien ablaufen, und das wegen der Transporte von Flüssiggas in Richtung Europa strategisch derzeit noch bedeutender wird.
Äthiopien ist zudem seit langem amerikanischer Militärpartner im Kampf gegen die Islamisten in Somalia und es beherbergt eine Millionen Flüchtlinge. Den Ruf als Stabilitätsanker hat die nahezu zahlungsfähige Nation verspielt – aber das Gegenteil will sich kein EU-Politiker ausmalen. Das in einigen Phasen des Krieges durchaus vorstellbare Szenario, dass der Vielvölkerstaat mit seinen 115 Millionen Einwohnern im Stile Jugoslawiens zerfallen könnte.
Ganz nebenbei hat Äthiopien als Sitz für die Afrikanische Union besondere Bedeutung auf dem Kontinent, wo in diesen Tagen der gestiegene russische Einfluss sichtbar wird. Südafrika plant für Februar eine gemeinsame Militärübung mit Russland und China – und Burkina Faso will im Anti-Terror-Kampf nicht mehr auf Frankreichs Truppen setzen, sondern auf russische Wagner-Söldner. Wie schon zuvor Mali.
Als der Krieg Mekelle mit seinen über 500.000 Einwohnern erreicht und Äthiopiens Armee für einige Monate die Kontrolle übernimmt, da denkt der Händler Henok nicht an Geopolitik, sondern was er in seine Reisetasche packen muss. Es ist Ende 2020, offiziell darf er die Provinz nicht verlassen. Wer wie Henok „Tigre“ als Abstammung im Personalausweis stehen hat, muss bleiben. Doch er will weg. Um jeden Preis.
Sein Bankkonto ist eingefroren, wie bei vielen Angehörigen der Ethnie, auch in anderen Teilen des Landes. Henok ist mit seinen 24 Jahren weit gekommen, der eloquente Mann mit Vollbart und Vorliebe für weiße Schuhe verdient gutes Geld mit dem Import von Möbeln in die strukturschwache Gebirgsregion. Dieser Krieg wird ihn nicht aufhalten, schwört sich Henok. Er kennt Leute, spricht lange mit seinen Kontakten, wird quer durch die Stadt geschickt, bezahlt schließlich umgerechnet 200 Euro an Schmuggler. Um selbst Schmuggler zu werden.
Jemand besorgt ihm einen Ausweis, der ihn zu einem aus der Nachbarregion Afar stammenden Studenten macht, der damit offiziell aus dem Kriegsgebiet Tigray ausreisen darf. An den Straßenkontrollen schweigt er, seine Sprache würde ihn verraten. Manchmal zögern die Soldaten, dann stecken ihnen die Schmuggler ein paar Scheine zu.
Nach einigen Tagen erreicht er Addis Ababa, kauft einen weiteren Ausweis und eröffnet unter dem falschen Namen ein neues Konto. Bald schickt er Öl, Reis und Mehl an die Grenze zu Tigray, wo Anwohner den Weitertransport in die blockierte Region organisieren. 10.000 Euro Schmiergeld an die Soldaten für einen großen Truck, die Hälfte davon für einen kleinen. Dafür verkaufen seine Leute die Waren in Tigray für das Dreifache des Marktpreises. Mit Bargeld, das Henok in den Trucks mitschmuggelt. Von Verwandten seiner Kunden, die in Addis oder der Diaspora leben, lässt er sich das Eineinhalbfache bezahlen. Eine Wahl bleibt seinen Kunden nicht, schließlich hat Äthiopien damals alle Banken in Tigray geschlossen.
Im Dorf Teshi kann sich während des Krieges kaum jemand derartige Dienste leisten, es geht ums bloße Überleben. Erst nach fünf Tagen ziehen die äthiopischen Soldaten weiter, erst jetzt können die Überlebenden ihre Verwandten begraben. Von einigen sind nur noch Knochen und Kleiderfetzen übrig, den Rest haben Hyänen gefressen. Wie viele werden folgen, denkt sich Chief Abraha, wie viele einen stillen Tod sterben?
Die Antwort lautet 286. Er hat Buch geführt über jeden Todesfall, den er auf die Folgen des Krieges zurückführt. Kinder, die an Durchfallerkrankungen gestorben sind, weil sie mangelernährt waren und es keine Medizin gab. Die Diabeteskranken. Unfallopfer, für die es keinen Krankentransport gab. In seiner Liste ist jeder 30. Bewohner verzeichnet. Der Ort ist im Vergleich zu anderen damit noch glimpflich davongekommen.
Von manchen Bauern weiß er derweil nicht, ob sie leben. Sie sind geflüchtet, aus Angst neuen Angriffen. Und weil fast alle Geschäfte im Ort zugemacht haben. Vor dem Krieg hatten Dutzende LKWs täglich hier für die Rast angehalten, nun kommt niemand, Äthiopiens Wirtschaft liegt nicht nur in Tigray am Boden. Dazu die schwache Ernte im Jahr 2021. Die im Jahr 2022 war nur ein bisschen ertragreicher, trotz endlich guter Regenfälle. Denn Äthiopien blockiert seinerzeit auch den Import von Dünger, ohne ihn aber gibt der karge Boden kaum etwas her.
Beim Angriff werden auch Rinder getötet oder gestohlen, Bauern ziehen tiefer aufs Land – in Gegenden, die vermeintlich weniger vom Krieg betroffen sind. Abraha stellt auf Überlebensmodus, isst nur noch einmal am Tag, wie die meisten Dorfbewohner. Reis, Injera, das äthiopische Sauerteig-Fladenbrot, wenn es denn vorhanden ist. Im August 2022 vermelden die Vereinten Nationen, dass jedes dritte Kind in der Region unterernährt sei, was das Sterberisiko verzwölffacht.
Abraha hält diese Zahlen sogar für zu niedrig. Er kennt in seinem Dorf kein Kind, das nicht unterernährt ist. Die Schulen sind bei den Kämpfen zerstört worden, Soldaten haben ihre Blechdächer herabgerissen, um Barrikaden zu bauen. Abraha organisiert improvisierten Unterricht im Freien. Die Lehrer arbeiten unentgeltlich – bis heute bleiben auch die unzerstörten Schulen in Tigray geschlossen. Seit nunmehr drei Jahren.
Im vergangenen August eskalieren die Kämpfe nach Monaten des „humanitären Waffenstillstands“ erneut, wieder werden kaum Hilfsgüter nach Tigray gelassen – und damit läuft das Geschäft für Händler Henok. So glänzend, dass ihn das schlechte Gewissen plagt. Der Schmuggler redet sich ein, den Menschen in Tigray auf Druck seiner Geschäftspartner überhöhte Preise berechnen zu müssen. Dass er ja auch die Kamel-Treiber zahlen müsse, mit denen die Güter die letzten Kilometer über Pfade in den Bergen nach Tigray gebracht werden, vier Stunden lang. Dass ihm eine Gefängnisstrafe droht, wenn ihn die äthiopische Regierung erwischt.
Doch letztlich muss er sich eingestehen, ein Profiteur dieses Krieges zu sein – der nun deutlich mehr verdient als vorher. So viel Geld, dass er in Addis Ababa Essen an verarmte Tigrayer verteilt. Das beruhigt das Gemüt, er macht weiter, ein Ende des Geschäfts ist da noch nicht in Sicht.
Selam, 28, kann dem Krieg nicht entkommen, aber bis vor wenigen Tagen immerhin von ihrem schlanken Körper und den drei Töchtern fernhalten. Ihr Name bedeutet „Frieden“, den es in ihrem Dorf an der Grenze zu Eritrea seit Jahren nicht gab. Eritreische Soldaten haben die Gegend rund um die Stadt Zalambessa besetzt, nachdem die TPLF von hier Raketen in Richtung Asmara, der Hauptstadt Eritreas, abgefeuert hat.
Die junge Mutter weiß, dass sie in Gefahr ist. Zwei Brüder und ihr Vater haben sich der TDF angeschlossen, sind gegen die eritreischen Angreifer in den Krieg gezogen. Wochenlang versteckt sie sich in einer Höhle, nicht zum ersten Mal. Beide Länder beanspruchen die Grenzgegend seit Jahrzehnten für sich, schon in ihrer Kindheit wird immer wieder um sie gekämpft.
Doch Anfang Januar traut sie sich nachts aus ihrem Versteck. Ein Risiko, trotz des Friedensabkommens, das Äthiopien und Tigray nach zähem Ringen erst kurz davor, im November 2022, unter Vermittlung der Afrikanischen Union abgeschlossen haben. Denn daran war der Kriegstreiber Eritrea nicht beteiligt, die Rede ist lediglich von einem „Abzug ausländischer Streitkräfte“. Die eritreischen Soldaten, die Selam so sehr fürchtet, patrouillieren die Straßen aber weiter.
Doch die drei Töchter haben Hunger, alle Vorräte sind aufgebraucht. In der Nacht geht die Mutter mit der Großmutter und den Kindern zu ihrem Haus, braucht jede Hand, um das dort gelagerte Essen in die Höhlen zu tragen. Sie steht am Ofen, als die beiden eritreischen Soldaten die Hütte betreten.
„Ich bin verheiratet“, fleht sie verzweifelt, als sich die Männer nähern und ihr Schicksal besiegelt ist. Dutzende Frauen in ihrer Nachbarschaft wurden vergewaltigt, Sexualverbrechen werden in diesem Konflikt gezielt als Kriegswaffe eingesetzt, berichten UN-Mitarbeiter im Jahr 2021. Derartige Vorwürfe richten sich gegen alle bewaffneten Akteure, Eritrea werden aber einige der schwersten Kriegsverbrechen zur Last gelegt.
Es spiele keine Rolle, dass sie verheiratet sei, sagen die Soldaten, im Gegenteil: „Deine Kinder werden eines Tages gegen uns kämpfen.“ Als der ältere nach Selams Rock greift, versucht ihn die Großmutter an der Schulter zurückzuziehen. Zwei Schüsse treffen die Brust, einen den Kopf der alten Frau. Ein Mann sagt in Richtung der Toten: „Ihr seid wie Läuse.“
Selams Schreie, ihre wütenden Schläge gegen die Angreifer, verstummen, als der Pistolenknauf ihre Schläfe trifft. Sie spürt das Blut, das aus Ohr und Nase tropft, die Vergewaltigung durch beide Männer, dann verliert sie das Bewusstsein. Als sie aufwacht, sind die Männer weg. Bienen aus dem zertrümmerten Bienenstock hinter dem Haus schwirren umher. Die blutende Mutter sieht verschwommen den zerstörten Ofen. Dann zwei der drei Töchter, verzweifelt stehen sie neben ihr, neben ihrer toten Uroma. Die älteste, zehn Jahre alt, ist unauffindbar. Bis heute.
Irgendwann traut sich ein Nachbar ins Haus, trägt Selam vier Stunden lang in ein sicheres Dorf. Als ihre Beine wieder gehorchen, macht sie sich auf den Weg nach Mekelle. Die Kinder folgen barfuß, schrecken vor Soldaten der TDF zurück, die ihnen Süßigkeiten anbieten. Sie tragen Uniform, wie die Vergewaltiger. Und wie ihr Vater. „Macht Papa auch so etwas Schlimmes wie die Männer?“ fragt die Siebenjährige? Eine Frage wie ein Dolchstoß. „Nein, er ist ein ganz anderer Mann“, antwortet Selam, die Tränen unterdrückend. Die Kinder müssen versprechen, dem Vater nichts vom Geschehenen zu erzählen, wenn sie ihn wiedersehen. Zuletzt schickte er vor einem Jahr einen Brief von der Front – sein letztes Lebenszeichen.
Jemand hat Selam vom Ayder Krankenhaus erzählt, wo seit Kriegsbeginn über 2000 Vergewaltigungsopfer behandelt wurden – davon, wie Selam, Hunderte noch nach dem Friedensabkommen im November und dem angeblichen Ende der Kämpfe. Dort sitzt sie nun auf der Wiese hinter einem Behandlungsraum, zerreibt ein paar trockene Grashalme zwischen den nervösen Fingern und versucht, das Unbeschreibliche zu beschreiben.
Sie hat gehört von den zunehmend glaubwürdigen Berichten, dass sich Eritreas Soldaten nun, wenige Tage nach ihrer Vergewaltigung, endlich aus wichtigen Städten im Norden Tigrays zurückziehen. Das nährt ihre Hoffnung auf Frieden – und den Gedanken, dass ihre älteste Tochter Leben könnte. Sicher nicht unversehrt. Aber doch leben. Dass ihre beiden verbliebenen Kinder das Trauma überstehen. Sie fürchten jeden in Uniform.
Noch immer kann sie kaum kauen, die Kopfschmerzen sind allgegenwärtig. Selam weint, oft seit dem Verbrechen, auch jetzt. Eine Krankenschwester hat ihr Tabletten gegeben, damit sie wieder einige Stunden schlafen kann. Sie will weiterleben, heilen, schon allein wegen dem, was geschehen ist. „Die Eritreer wollten uns auslöschen, das ist ihnen nicht gelungen.“ Einige Schweigen, die Mutter rupft neues Gras aus dem Boden. Dann sagt sie: „Genauso wenig wie es ihnen gelingen wird, uns zu brechen. Ich versuche meinem Kopf zu sagen, dass das alles nie passiert ist.“
Verdrängung als einzige Form der Verarbeitung, wie nach so vielen Konflikten in Afrika? Auch nach dem Krieg mit 100.000 Toten um die Grenzziehung zwischen Eritrea und Äthiopien in den Jahren 1998 bis 2000 gab es keine nennenswerte Aufarbeitung. Die Wunden mögen so grob vernarben, eine Chance auf Heilung haben sie nicht, drohen immer wieder neu aufzubrechen.
Beide Seiten trieb beim aktuellen Konflikt in erster Linie die Erschöpfung zum Frieden: Die TPLF angesichts des Massensterbens in der Zivilgesellschaft, zudem gab es Kritik an der mangelhaften Planung des Krieges – die Führung in Tigray hatte nicht mit der raschen Lieferung von Kampfdrohnen aus der Türkei und den Vereinten Arabischen Emiraten gerechnet, mit denen die Vorstöße der Aufständischen in Richtung Addis Ababa schließlich gestoppt wurden. Die von der TPLF angestrebte Ausweitung der Selbstbestimmungsrechte Tigrays war so nicht länger durchsetzbar.
Und Äthiopiens Zentralregierung ging angesichts von Sanktionen, Devisenknappheit, 30 Prozent Inflation und rasant steigender Staatsverschuldung das Geld aus, um die TPLF auch in Tigray komplett zu entmachten. Äthiopien braucht dringend Kredite von Weltbank und Internationalem Währungsfonds – das Kriegsende ist die Voraussetzung. Zumal China diesmal nicht wie erhofft zur Hilfe eilt. Anfang Januar hatte sich Abiy einen beträchtlichen Schuldenerlass aus China erhofft, das dem Land innerhalb von zwei Jahrzehnten 13 Milliarden Dollar geliehen hat, zuletzt aber bereits bei wichtigen Infrastrukturprojekten den Geldhahn zudrehte. Storniert wurden am Ende dem Vernehmen nach nur wenige Millionen Dollar – lediglich eine symbolische Geste.
Mitte Januar in einem Hotel in Äthiopien, rund 500 Kilometer südlich von Tigray. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) tritt mit ihrem äthiopischen Amtskollegen Demeke Mekonnen in einen vollbesetzten Raum, der mit schweren Holzpulten für eine Pressekonferenz hergerichtet ist. Am Vormittag hat sie bereits Premierminister Abiy getroffen, eine umfangreiche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gefordert – und eine Beteiligung von Frauen an den Gesprächen zur Umsetzung des Friedensabkommens. Die Verhandlungen in Pretoria im Oktober und November hatten fast ausschließlich Männer geführt.
Baerbock findet einige mahnende Worte, „mehr als schockierend“ sei der Tigray-Konflikt gewesen. „Wir sind gekommen, um sicherzustellen, dass der Friedensprozess dauerhaft ist. Ein Friedensabkommen kann ohne Rechenschaftspflicht nicht Bestand haben“, so die Ministerin, die aber auch um freundliche Töne bemüht ist. Schließlich findet man auf den Straßen Addis Ababas viele Autos mit dem Aufkleber #nomore – keine Einmischung des Westens mehr. Ein in Äthiopien weit verbreiteter Slogan, den auch hochrangige Politiker des nie kolonialisierten Landes in Tweets immer wieder verwenden.
Angesichts der Lage in Tigray vielleicht etwas zu höflich gratuliert sie zum gerade gefeierten Orthodoxen Weihnachtsfest und lobt den berühmten Kaffee des Landes, der ja in Äthiopien seinen Ursprung hat. Nichts soll die zaghafte Wiederannäherung Äthiopiens an den Westen gefährden, auch nicht ein Treffen mit der anderen Seite. Baerbock reist nach zwei Tagen ab, ohne mit einem Bürger der Tigray-Ethnie gesprochen zu haben.
Zurück lässt sie die Frage, wie Äthiopien mit ihrer Forderung nach der Einrichtung einer Übergangsjustiz zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen umgeht. Denn in dem ostafrikanischen Land sprechen viele der Justiz die Unabhängigkeit ab. Berhane Mebrihi zum Beispiel, er sitzt einige Tage nach Baerbocks Pressekonferenz in einem Restaurant, in dem die Musik so laut ist, dass an den Nachbartischen niemand seine brisanten Worte hört. Zehn Jahre lang war er Staatsanwalt, vor wenigen Monaten kündigte er. Zu offensichtlich war gegen Menschen auf Basis ihrer ethnischen Abstammung ermittelt und Bankkonten ohne rechtliche Grundlage eingefroren worden. Ermittlungen gegen einflussreiche Personen wurden dagegen verhindert. Mebrihi, ein Tigrayer, konnte seinen Job nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren.
„Die Regierung will nicht, dass unser Justizsystem unabhängig funktioniert“, sagt Mebrihi. Besonders nicht im Fall des Tigray-Krieges. Äthiopien macht bislang keine Anstalten, die internationale Gemeinschaft in nennenswertem Umfang an der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen zu beteiligen. „Wie können diejenigen, die für Verbrechen verantwortlich sind, selbst über die Schuld urteilen? Und wie will man so Äthiopiens Kriegspartner Eritrea zur Rechenschaft ziehen“, fragt der Jurist – und erwartet keine Antwort. Schon im Jahr 2018 habe es eine Versöhnungskommission gegeben zur Aufarbeitung von ethnischen Spannungen in Äthiopien vor dem Tigray-Krieg, sagt Mebrihi. Sie sei kolossal gescheitert.
Denn Tigray ist nicht die einzige Krise in Äthiopien: Im Norden von Addis Ababa verstecken sich in einem unscheinbaren Haus Dutzende Angehörige der Amhara-Ethnie, die getötete Verwandte zu beklagen haben. Sie wurden aus Dörfern des Regionalstaates Oromia vertrieben, aus der Premierminister Abiy stammt – betroffen sind Tausende Amaharas.
Abiy ist der erste Oromo an der Macht, die größte ethnische Gruppe Äthiopiens kämpft vielerorts mit Gewalt um wirtschaftlichen und politischen Einfluss. Besonders in der Metropole Addis Ababa, in der rund ein Drittel des äthiopischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet wird. Gleichzeitig halten amharische Milizen weiterhin Teile im Westen Tigrays besetzt. Äthiopiens Politik ist komplex – und weit von einer gemeinsamen nationalen Identität entfernt.
Die wichtigen Regionalstaaten haben sich in den vergangenen Jahren militarisiert. Während bei den Kämpfern in Tigray die im Friedensabkommen vereinbarte Entwaffnung zumindest der schweren Waffen begonnen hat – ein Schritt, der von einigen TDF-Soldaten durchaus kritisch gesehen wird – , macht die Regierung wenig Anstalten, sie auch in anderen Regionen des Landes durchzusetzen. Der Vielvölkerstaat Äthiopien, eines der ältesten Länder der Welt, ist brüchig geworden. Und das nicht nur in Tigray.
Dort arbeitet der Schmuggler Henok in diesen Tagen an seiner Rückverwandlung zum Möbelhändler, schließlich kriselt der Schmuggel. Es kommen wieder reguläre Waren nach, wenn auch nur langsam. Noch sind die Straßen nach Tigray für den Personenverkehr abgeriegelt. Flüge nach Addis Ababa gibt es seit einigen Wochen, doch Erwachsene im erwerbsfähigen Alter dürfen nur aus medizinischen Gründen ausfliegen.
Auch das Benzin ist knapp. Die dreirädrigen Tuk-Tuk-Taxis kaufen ihr Benzin weiterhin teuer und in Ein-Liter-Flaschen auf dem Schwarzmarkt, weil die Schlangen an den Tankstellen über einen Kilometer lang sind, Henok fährt in einem potenzielle Kunden ab. Sobald es bergab geht, schalten die Fahrer den Motor ab, um Benzin zu sparen.
Am Abend betritt der Händler die Lounge eines Hotels in Mekelle, es wurde gerade wieder ans Internet angeschlossen – über 50 Menschen sitzen deshalb in der Lobby, um Verwandten und Freunden zu schreiben, die sie seit Beginn des Krieges nicht erreichen konnten. Er hat ein Kind, ist frisch verlobt. „Ich weiß nicht, ob das alles was wird für mich“, sagt Henok. „Wenn es mit dem Geschäft nicht klappt, dann verlasse ich das Land.“ Am liebsten in die USA. Er hat nicht so viel wie andere Schmuggler verdient. Aber das gesparte Geld wird schon irgendwie für einen Neustart reichen.
Für die Bürger von Chief Abraha in Teshi gibt es dagegen keine Alternative zum Leben in Teshi, ihrem Dorf. Die meisten sind hier geboren, die meisten werden hier sterben. Teshi sitzt im einzigen kleinen Laden, der im Dorf wieder aufgemacht hat, gegenüber liegen andere Geschäfte noch in Kriegstrümmern. Ein LKW mit Düngemitteln fährt durch den Ort, Abraha schaut hinterher. „Sie kommen wieder“, sagt er mit einem Ton, in den sich erstmals Zuversicht mischt. Hilfsgüter werden seit Wochen nach Tigray durchgelassen. Dort können sie noch nicht in alle Gegenden ausgeliefert werden. Aber immerhin: Dieser von einer gewaltigen Staubwolke eskortierte Truck ist ein schöner Anblick.
Doch es ist ein schwieriger Tag für Abraha. Das Dorf feiert die Timkat-Zeremonie, das farbenfrohe äthiopisch-orthodoxe Fest der Taufe Jesu. Traditionell ein Anlass, bei dem die Familie zusammenkommt, zusammen singt und tanzt. Doch diejenigen, die Verwandte verloren haben, spüren ihren Verlust heute mit besonderer Wucht.
Vor Beginn derartiger Feierlichkeiten besucht Abraha die Hinterbliebenen. Heute geht er zu einem abgelegenen Haus zu Meresiet Eyasu, die im Alter von 33 Jahren zur Witwe wurde. Die Soldaten töteten ihren Mann, als er die Rinder hütete. Den Bus, die Haupteinnahmequelle der Familie, zündeten sie an. „Er war nur ein Zivilist“, sagt Meresiet. Sie beginnt zu weinen, die achtjährige Tochter frage täglich nach ihm. Noch immer, fast zwei Jahre nach dem Angriff, schafft sie es nicht, sein Grab zu besuchen. „Der Schmerz tötet auch uns“, sagt die Witwe.
Abraha muss gleich weiter, die Feier beginnt. Die Priester haben vorgeschlagen, neben der Flagge Tigrays erstmals auch wieder eine kleinere Fahne Äthiopiens zu zeigen. Als Zeichen der Versöhnung, sie lag während des Krieges unberührt in der Kirche. Tagelang wurde in Teshi darüber diskutiert, schließlich stimmten die Dorfältesten zu.
Abraha geht alleine vom Hof, steigt einen zerklüfteten Pfad hinauf, gebeugt vom Gewicht des gemeinsamen Schmerzes. Er hat sich nicht getraut, Meresiet von der Sache mit der Fahne zu erzählen.