Christian Putsch

Das Opfer, ein Massenmörder

Christian Putsch
Das Opfer, ein Massenmörder

Dominic Ongwen wurde als Kind im Norden Ugandas von Joseph Konys LRA entführt und stieg innerhalb der brutalen Miliz zum massenmordenden Top-Kommandanten auf. Er ist Täter, sagen die Ankläger des Weltstrafgerichts. Ongwen ist Opfer, widerspricht sein Bruder. Er geriet am gleichen Tag in Konys Fänge 

Von Christian Putsch

Gulu - Der Schulweg führte durch dichtes Gestrüpp, eine Stunde lang. Hunderte Male war ihn Andi Odong mit seinem kleinen Bruder gegangen. Dominic Ongwen, gerade 10 Jahre alt, hatte dabei viel über das Malen geredet. Am liebsten zeichnete er Engel, manchmal auch den Teufel in grellen Farben.

Plötzlich waren die Männer da. Schwer bewaffnet mit Maschinenpistolen versperrten sie den Weg. Es war der Moment, den Odong und Dominic gefürchtet hatten. Eine Flucht vor den Schergen des irren Rebellen-Führers Joseph Kony war zwecklos. Die Eltern hatten ihnen immer wieder gesagt, zu flüchten, wenn das Unvorstellbare passiere. Und falls das nicht gelingen sollte, sollten sie gegenüber den Männern der gefürchteten Lord Resistance Army (LRA) einen falschen Namen angeben. Um die Familie zu schützen. Wie er heisse, wollten die Männer von Dominic wissen: „Dominic Ongwen.“ Der Schock war zu gross, um zu lügen.

25 Jahre später sitzt der grosse Bruder Odong unter einem grossen Baum auf einem Plastikstuhl. Der 42-Jährige sitzt in der Mittagshitze und trinkt Wasser aus dem Brunnen. Es ist ein einfaches Leben, so wie es Tausende im Norden Ugandas führen. Die Familie pflanzt Cassava und Mais an. Sie versucht von dem zu leben, was das Land im Dorf Coorom hergibt. Irgendwie. Und sie versucht, die Vergangenheit zu verarbeiten. Irgendwie. Beides ist ein täglicher Kampf.

Im Januar hat Odong im Radio gehört, dass sie seinen Bruder in der Zentralafrikanischen Republik verhaftet haben. Endlich, dachte er nur, es hat ein Ende. Der Sprecher hat wiederholt, was die Leute schon so oft über ihn erzählt haben, was er  noch immer nicht glauben will. Dominic, der Massenmörder. 

Dem ranghöchste Kommandeur unter Kony werden mehrere Massaker vorgeworfen. Ongwen, inzwischen 35 Jahre alt, wurde als erster LRA-Kämpfer an das Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag übergeben. Es steht ein Mann wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht, der Opfer gleicher Taten geworden ist, die ihm vorgeworfen werden – für das Gericht wird das ein erheblicher Konflikt. 

Die lange so ähnlichen Lebensläufe der beiden Brüder hatten sich nach 5 Monaten Gefangenschaft getrennt. Odong riskierte die Flucht. Ohne seinen Bruder, er wollte mit ihm fliehen, doch sie waren nach einigen Wochen an der Grenze zum Südsudan getrennt worden. Odong zog mit einem LRA-Trupp zurück in Richtung seines Heimatdorfes. Als sie eine Gegend erreichten, in der er sich auskannte, lief er nachts los. Immer weiter, weg von Kony, weg vom Tod. Er hatte gesehen, wie der irre Rebellenführer Jugendliche nach gescheiterten Fluchtversuchen hinrichten liess. 

Die Bilder seines zurückgebliebenen Bruders verfolgen ihn bis heute. Ongwen war damals erst 10 Jahre alt. Es war das bevorzugte Alter der LRA: zu schwach für die Flucht, jung genug für die Indoktrinierung. Schon nach ein paar Tagen zeigten ihm die Kämpfer den Umgang mit der Waffe, vor allem aber war er Sklave für die Logistik. „Wir mussten die Lebensmittelvorräte und Zelte tragen“, erinnert sich Odong, „wenn uns die Kraft ausging und wir langsamer wurden, schlugen sie uns.“ 

Kony sahen sie nur aus der Ferne. Die Jugendlichen durften ihm nicht einmal in die Augen schauen. Der ehemalige Messdiener Kony erklärte die Formierung der LRA Ende der achtziger Jahre mit „spirituellen Kräften“. Sie würden ihm zum Sturz der Regierung und der Errichtung eines Staates auf Grundlage der 10 Gebote befähigen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass die LRA mehr als 100.000 Menschen getötet und 60.000 entführt hat. Inzwischen hat die Terrorgruppe Uganda verlassen und ist zersplittert, sie wird nur noch auf rund 200 Mitglieder geschätzt.

Ongwen und Odong wurden noch nicht für Überfälle eingesetzt, aber darauf vorbereitet. Tränen waren tabu, spätestens nachdem Kony einen gefangenen Jugendlichen erschiessen liess, der öffentlich geweint hatte. Nur nachts hörte Odong seinen Bruder schluchzen. Für ihn ist Ongwen Opfer geblieben.

Für Vincent Oyet, 42, ist Ongwen am 19. Mai 2004 zum Täter geworden. Er lebte in einem Flüchtlingslager im Dorf Lukodi. Dass er an diesem Tag mit dem Fahrrad in die nahe gelegene Stadt Gulu gefahren war, um Verwandte zu besuchen, rettete ihm wohl das Leben. Über 80 Rebellen überfielen am Abend das Lager und mordeten wahllos gemordet. Augenzeugen berichteten, dass Ongwen das Massaker koordiniert habe. Das Weltstrafgericht wird besonders seine Rolle an diesem Tag aufzuklären versuchen. 

Oyet steht vor der Schule von Lukodi, auf deren Grundstück damals das  Massaker angerichtet wurde. Auf einer weissen Wand ist ein Mahnmal mit 46 Namen gemalt, den Opfern des 19. Mai 2004. „Sie wurden geschlachtet wie Hühner“, sagt Vincent. Unter den Namen ist der seiner Stiefmutter, von Cousins und Nachbarn.

Vincent Oyet am Ort des Anschlags (2015)

Vincent Oyet am Ort des Anschlags (2015)

8 Jahre nach der Flucht der LRA in die Nachbarländer Sudan und Kongo ist Lukodi ist einer der vielen Orte, in der Täter Tür an Tür mit ihren Opfern leben. 13.000 LRA-Kämpfer haben ein Amnestieprogramm in Anspruch genommen. Für den engen Führungszirkel von Kony gilt das Angebot nicht. Zu Recht, wie Oyet findet. „Es wäre etwas anderes, wenn Ongwen entführte Kinder mit aus dem Busch gebracht hätte“, sagt er. Sollte seine Schuld bewiesen werden, gehöre er für immer ins Gefängnis. 

Vor einigen Wochen waren Mitarbeiter des ICC im Dorf. Sie registrierten Opfer der LRA, die womöglich Anspruch auf Entschädigung haben – und hörten Warnungen. Es dürfe keine Verzögerungen bei diesem Prozess geben, sagte eine aufgebrachte Frau, schliesslich würden immer mehr Opfer und deren Angehörige altersbedingt sterben. Sie hätten ein Recht darauf, die Bestrafung von Ongwen zu erleben, „sonst nehmen sie das womöglich in die eigene Hand“. Eine offene Drohung an die Familie von Ongwen.

Nein, sagt Ongwens Bruder Andi Odong im 60 Kilometer entfernten Coorom, von möglichen Rachegelüsten hätten sie nichts gehört. Und überhaupt: „Es gibt keinen Beweis, dass Dominic wirklich für das Massaker von Lukodi verantwortlich ist.“ Einige Zeugen hätten einen anderen Kommandanten als Anführer identifiziert.

Bruder eines Massenmörders: Andi Odong (2015)

Bruder eines Massenmörders: Andi Odong (2015)

Sein Onkel John Odonga, 62, setzt sich zu ihm unter den Baum. Er hat Odong gross gezogen, zu sich genommen, nachdem die LRA auch Odongs Eltern tötete. Er würde Ongwen gerne zu sich nehmen, nicht zuletzt wegen der nächsten Ernte, für die er Hilfe braucht. „Für mich zählt sein Rang nicht“, sagt John Odonga, „Kony hat bestimmt, dass er sein zweiter Mann wird.“ Eines Tages soll Ongwen die Familie führen.

Der alte Mann hofft, dass sein Neffe Hinweise zur Ergreifung von Kony liefern kann. Und dass er ihn dann wiedersehen wird, in seinem Heimatdorf Coorom.  Er hat oft über diesen Moment nachgedacht, ihn sich vorgestellt. Ein gemeinsames Gebet. Und dann die Frage, ob die Vorwürfe gegen ihn stimmen. „Als sein Onkel muss ich das wissen.“