Christian Putsch

Wie ein 116-Jähriger die Pandemie erlebt

Christian Putsch
Wie ein 116-Jähriger die Pandemie erlebt

Der Südafrikaner Fredie Blom erlebte als Teenager die Spanische Grippe von 1918 – und verlor damals seine Schwester. Angst vor dem Coronavirus hat er nicht. Wohl aber vor dem Verbot von Zigaretten.

Christian Putsch, Kapstadt 

Am 8. Mai war sein 116. Geburtstag. Normalerweise feiern die Menschen im Kapstädter Armenviertel Delft „ihren“ Fredie Blom mit einer großen Party. 200 Menschen kommen, er ist schließlich einer der ältesten Menschen der Welt. Diesmal war es wegen der Covid-19-Pandemie eine gedämpfte Stimmung. Blom saß vor seinem Haus, mit sicherem Abstand legten die Menschen von der Straße aus Geschenke nieder und bekamen von der Familie ein Essenspaket überreicht, wie es hier Tradition ist.

Blom beobachtete also die Prozedur der Nachbarn, die am geöffneten Tor zum Grundstück vorbeizogen. Die Leute hier sind stolz auf ihn. Es ist gut möglich, dass er der älteste lebende Mann der Welt ist. Ende Mai starb der Brite Bob Weighton, 112, der diesen Rekord nach Angaben des Guinness-Buch der Rekorde hielt. Blom hat eine gültige Geburtsurkunde, auf der das Geburtsjahr 1904 vermerkt ist. Für die Eintragung aber bedürfte es weiterer Verifizierungen.

Die Ohren lassen nach, auch die Erinnerung. Er bekommt nicht mehr alles vollständig mit, wohl aber, dass fast alle Masken trugen. „Was soll der Blödsinn“, sagte er, als ihm seine Frau Jeanette, 87, ebenfalls eine aufsetzen wollte. Er weigert sich beharrlich, bis heute. Südafrika hat rund 35.800 Infektionen registriert, mehr als jedes andere afrikanische Land. Über 750 Patienten starben (Stand 3. Juni). Doch die Nation steht, obwohl die Ausgangssperre zuletzt gelockert wurde, erst am Anfang der Infektionswelle, sagt das Expertengremium, das die Regierung berät. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass bis November über 40.000 Südafrikaner an der Infektion sterben könnten.

Angst hat Blom nicht, obwohl Kapstadt das Epizentrum des Landes ist, hier gab es über die Hälfte der bekannten Fälle in Südafrika. Der alte Mann sitzt in seinem winzigen Wohnzimmer auf einem alten Holzsessel, kariertes Hemd, Gehstock, eine gelbe Baseballmütze bedeckt die grauen Haarstoppel. „Nur eine Person weiß, wie lange wir alle leben werden“, sagt er, „und das ist Gott.“ Die Familie ist tief religiös – wie viele in der Nachbarschaft. Bis zum Beginn der Pandemie trafen sich jeden Sonntag Dutzende Anwohner in dem kleinen Anbau, den die Familie ein wenig illegal bis zum Ende des Bürgersteiges gebaut hat. Diese gemeinsamen Gebete fallen wegen des Versammlungsverbots in Südafrika weg. Die Bloms aber beten weiter, alleine.

Der Glaube, so sagt der alte Mann, habe ihn schon vor über 100 Jahren gerettet. 1918 wütete die Spanische Grippe in Südafrika so brutal wie in wenigen anderen Ländern. Weltweit starben mehr als 50 Millionen Menschen, darunter 300.000 Südafrikaner, die das Virus innerhalb von sechs Wochen dahinraffte. Das bedeutete damals sechs Prozent der Bevölkerung – darunter auch Bloms Schwester.

„Sie starb, weil keine Ärzte da waren, wir haben vergeblich auf sie gewartet“, sagt er mit schwacher Stimme, „jeden Tag sind Menschen gestorben, die Leichen wurden in grossen Karren abtransportiert.“ 14 Jahre alt war Blom damals, die Schulen und die meisten Geschäfte waren wie in diesen Tagen geschlossen, auch damals trugen viele Masken. Die Isolation aber lief anders ab. „Die Kranken blieben in den Häusern, wir haben ihnen das Essen vor die Tür gestellt“, erinnert er sich, „wir Gesunden wurden in Hallen untergebracht. Oder wir mussten draußen schlafen.“ 

Fotos: Karin Schermbrucker (Slingshot Media)

Fotos: Karin Schermbrucker (Slingshot Media)

Die Mediziner in Südafrika hätten damals Medizin verabreicht. Es sollte sich herausstellen, dass sie nicht wirksam waren, verabreicht wurden sie trotzdem. Blom zieht den rechten Ärmel seines Hemdes hoch und zeigt auf zwei Narben am Oberarm. Die Substanzen seien damals nicht mit der Nadel verabreicht, sondern in aufgeritzte Wunden geträufelt worden – ohne Betäubung. „Ich gehe nicht mehr zu Ärzten“, sagt Blom, „ich mag sie nicht.“

Empfehlungen zur Gesundheit waren seine Sache nie. Normalerweise raucht er jeden Tag, sein ganzes Leben schon, phasenweise waren es über 20 Zigaretten am Tag. Er dreht sie selbst, die Motorik mag nachlassen, aber diese Bewegungen wird er wohl immer beherrschen. Nur in diesen Tagen kommt er kaum noch an Tabak.

Die Regierung hat im Zuge des Covid-19-Lockdowns auch den Verkauf von Alkohol und Tabak verboten. Alkohol, so die Begründung, erschwert das Abstandhalten – außerdem verursacht es viele Krankenhausaufenthalte. Ressourcen, die für Covid-19 benötigt werden. 

Seit ein paar Tagen darf wieder Alkohol erworben werden, der Handel mit Tabak aber bleibt weiterhin ein Tabu. Vielerorts würde eine einzelne Zigarette unter Freunden geteilt, erklärte eine Ministerin. Die Folge: Die Schwarzmarktpreise explodieren. Eine einzelne Zigarette kostet inzwischen umgerechnet einen halben Euro. 

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Am Anfang, als die Preise noch nicht so hoch waren, hat Blom illegalen Tabak gekauft – musste davon aber heftig husten. Jetzt kann sich die Familie das sowieso nicht mehr leisten. Ersparnisse gibt es kaum, Blom hat sein Leben lang auf Farmen oder in Fabriken gearbeitet. Das Paar lebt von der Rente, zusammen bekommen sie umgerechnet rund 180 Franken im Monat. Davon unterstützen sie auch noch die Familien von zwei Söhnen von Jeanette, die sie mit in die Ehe gebracht hat. Der eine hat bis zur Pandemie auf Baustellen gearbeitet und nun seinen Job verloren. Der andere ist Busfahrer – er verdient nun kaum noch etwas.

„Ich werde Fredie doch um Himmels willen nicht erlauben, von dem wenigen Geld jetzt Tabak zu kaufen“, sagt Jeanette Blom, die mit dem inoffiziellen Rekordhalter seit fast einem halben Jahrhundert verheiratet ist. Die aktuelle Pandemie sei eine Katastrophe, sagt sie. Ihren Humor aber hat sie nicht verloren. „Immerhin muss ich ihn jetzt nicht mehr zum Rauchen aus dem Haus jagen.“