Christian Putsch

„Wenn es so weiter geht, wird der Sudan das nächste Libyen“

Christian Putsch
„Wenn es so weiter geht, wird der Sudan das nächste Libyen“

Girmachew Adugna ist Dozent am Zentrum für Vertriebene und Migration an der Addis Ababa Universität in Äthiopien. Im WELT-Interview spricht er über die Perspektive in Afrika auf die Migrationskrise in Europa.

 

WELT: Die sogenannte Migrationskrise ist in Europa erneut ein dominierendes Thema in der politischen Debatte. Welche Perspektive haben die Menschen in afrikanischen Ländern dazu?

Girmachew Adugna: Innhalb der Bevölkerung ist das weniger ein Thema. Selbst lokale Migrationsbewegungen produzieren hier kaum Schlagzeilen. Anfang des Jahres etwa flohen 100.000 Menschen aus Somaliland vor einem lokalen Konflikt nach Äthiopien, das hat hier kaum Beachtung in den großen örtlichen Medien gefunden. Aber von Seiten der Regierungen in Afrika wird die Entwicklung in Europa sehr genau verfolgt. Es sind in den vergangenen Jahren viele Task-Forces dazu entstanden, die Rückführungsabkommen diskutieren und neue Gesetze zur Bekämpfung von Schlepperbanden auf den Weg bringen, die oft wie von Europa diktiert klingen.

WELT: Warum lassen die afrikanischen Regierungen das zu?

Adugna: Es wird immer deutlicher, dass Entwicklungszusammenarbeit an die Bedingung geknüpft wird, irreguläre Migration zu unterbinden. Dieser einseitige Fokus wird besonders den ostafrikanischen Ländern nicht gerecht. Dort führt weniger als ein Prozent der Migrationsbewegungen in Richtung Europa. Über die Hälfte findet innerhalb des Horns von Afrika statt, die beiden großen anderen Korridore gehen Richtung Saudi-Arabien und Südafrika.

WELT: Der Sudan hat bislang 1,1 Millionen Flüchtlinge beherbergt. Mit dem Krieg dort werden viele von ihnen erneut vertrieben, auch die örtliche Bevölkerung sucht Sicherheit. Welche Auswirkungen wird die Krise haben?

Adugna: Die Herausforderung für die gesamte Region ist riesig, weil die Belastung ja schon davor enorm war. Zehntausende sind in den Tschad geflüchtet, der bereits 500.000 Flüchtlinge hatte. Äthiopien ist ebenfalls stark betroffen, dort kommen Hunderttausende Migranten hinzu, die aus Saudi-Arabien ausgewiesen wurden. Auch in den Südsudan kehren nun viele zurück, die über viele Jahre hinweg in sudanesischen Flüchtlingslagern gelebt haben. Aber diese Lager waren oft in abgelegenen Gegenden ohne Aussicht auf Integration oder wirtschaftliche Eigenständigkeit. Insofern muss man die Situation in Teilen auch als Möglichkeit zur Reintegration begreifen. Allerdings bedarf es dafür die gleiche Unterstützung, die derzeit der Ukraine zugutekommt. Sonst haben diese Länder keine Chance auf die Bewältigung der Aufgabe. Und das scheint man in Kauf zu nehmen.

WELT: Worauf bezieht sich ihre Kritik konkret?

Adugna: Generell sind in der Europäischen Union Flüchtlinge immer weniger willkommen, da ist Ukraine eine große Ausnahme. Der Anteil afrikanischer Flüchtlinge und Migranten in Europa ist weiter vergleichsweise gering, aber ein Großteil des politischen Populismus richtet sich gegen diese Gruppe. Da ist schnell von Invasionen und anderen Angst schürenden Begriffen die Rede, übrigens auch in wohlhabenderen Ländern wie Kenia und Südafrika, wo ebenfalls immer mehr Stimmung gemacht wird. Natürlich ist es richtig von Europa, den Ukrainern Schutz zu gewähren. Aber in den Industriestaaten fehlt das Bewusstsein, dass einige der ärmsten Länder Welt die größte Bürde der globalen Flüchtlingskrisen tragen. Uganda hat 1,5 Millionen Flüchtlinge, Äthiopien fast eine Million, dazu über vier Millionen Binnenvertriebene.

WELT: Viele der Flüchtlingslager dort werden zu erheblichen Teilen von der Internationalen Gemeinschaft finanziert.

Adugna: Ja, aber die Zuwendungen des Westens sinken, besonders seit dem Ukraine-Krieg. Die zuständigen UN-Agenturen sind aktuell so unterfinanziert wie selten, die dringend benötigten Programme für die Reintegration der Sudan-Rückkehrer sind so nicht zu finanzieren. So ist es immer – bei einem neuen Konflikt werden als erstes diese Mittel zur Reintegration an anderer Stelle abgezweigt. Und es ist nun sieben Jahre her, seit der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Länder des Nordens aufgefordert haben, zehn Prozent dieser Flüchtlinge aufzunehmen, entweder durch Umsiedlungsprogramme oder legale Wege wie Arbeits- und Studienprogramme. Tatsächlich bewegen wir uns weiter deutlich unter einem Prozent.

WELT: Aktuell stammt die Mehrheit der afrikanischen Migranten und Flüchtlinge in Europa aus Westafrika. Wird sich das mit dem Sudan-Krieg ändern?

Adugna: Sudan entwickelt sich zu einem rechtsfreien Raum, wenn es so weiter geht, wird der Sudan das nächste Libyen. Das gibt Schleppern neue Möglichkeiten. Die Zahl könnte sich erhöhen, aber die irreguläre Migration von Ostafrika nach Europa ist noch teurer als von Westafrika. Nur wenige haben die Mittel, Tausende Dollar für diese gefährliche Reise aufzubringen. Viele afrikanische Migranten in Europa kommen ja nicht aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, es sind eher Menschen mit mittlerem Einkommen, die langfristig keine Perspektive für sich in Afrika sehen.

WELT: Das Regime des ehemaligen Diktators Omar al-Bashir wurde bis zu seinem Sturz im Jahr 2019 mit EU-Geldern bedacht, um die Grenzen zu stärken. Hat sich Europa damit der Stärkung autokratischer Strukturen schuldig gemacht?

Adugna: Die EU hat ihre Außengrenzen immer weiter in den Süden verlagert, vor dem Krieg war auch der Sudan ein Alliierter, um die Flüchtlingsströme zu managen. Und natürlich fließen derartige Zahlungen vorrangig in den Sicherheitssektor und helfen damit Autokraten und Generälen beim Machterhalt. Oft kassieren Armee und mit dem Grenzschutz beauftragte bewaffnete Gruppen doppelt. Einmal durch diese Gelder, dazu dann durch Korruptionszahlungen der Schlepperbanden. Generell sind die bisherigen Ergebnisse des Nothilfe Treuhandfonds der EU äußerst enttäuschend. Die Gelder wurden fast ausschließlich an die für Migration strategisch bedeutsamen Länder wie Niger oder Sudan ausgegeben, und das nach sehr simplifizierten Bestandsaufnahmen. Der Fokus liegt allein auf dem Grenzschutz, die in Aussicht gestellte Entwicklung vor Ort fand dabei kaum statt.

WELT: Wir wird sich der Migrationsdruck in Afrika entwickeln?
Adugna: Er wird während der kommenden fünf bis zehn Jahre weiter zunehmen. Weil die Pusch-Faktoren stärker werden. Die Lebenshaltungskosten steigen rasant. Das Bildungsniveau wird besser, Afrika bringt immer mehr Akademiker hervor. Aber auch für sie gibt es längst nicht genug Arbeitsplätze. Wir brauchen mehr Handelsfreiheit auf dem Kontinent. Nur dann gibt es auch Anlass für Optimismus.