Gefährliche Heimat
Seit Monaten tobt ein Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik. Die Muslime flüchten aus ihren Dörfern, aus dem überwiegend von Christen bewohnten Land. Oft sind es langjährige Nachbarn, die ihnen nach dem Leben trachten. Opfer und Täter sind nicht immer leicht zu unterscheiden
Von Christian Putsch
Bangui - Minoo drückt die Wahlwiederholung. Der Daumen zittert. Es klingelt einmal, zweimal. Wie oft sie die Nummer der Tochter heute schon gewählt hat, sie weiß es nicht. Matt blinkt das Display des von Klebeband zusammengehaltenen Handys auf. Unter "Bébé Fazilah" hat sie ihre älteste Tochter eingespeichert, Baby Fazilah, noch immer, trotz ihrer zwölf Jahre. Sie starrt auf den Bildschirm, jedes Blinken ist irgendwie ein Lebenszeichen der drei Kinder. Das Handy ist schließlich noch an, irgendwann wird sich Bébés helle Stimme melden müssen. Doch nach achtmal Klingeln meldet sich doch nur wieder die Mailbox-Ansage. Kein Geräusch könnte grausamer klingen.
38 Grad, die Stadt dampft. Schwüle Luft erstickt den Atem, nicht aber die Gedanken. Die Angst um die Kinder lähmt das sanfte Gesicht unter dem sorgfältig gebundenen Kopftuch. Die Mutter steht am Rande eines alten Hangars am M'Poko-Flughafen, jenem Ort in der Hauptstadt Bangui, der zum Symbol des Bürgerkriegs in der Zentralafrikanischen Republik geworden ist. Sie möchte schreien. Stattdessen steht sie nur still da, inmitten eines Heers der Hilflosen.
Über 2000 Muslime haben auf einer Fläche von der Größe eines Fußballfelds ihr Flüchtlingslager aufgeschlagen. Es ist nicht die erste und für die Glücklicheren unter ihnen nicht die letzte Etappe im täglichen Kampf gegen den Tod. Als Gefangene im eigenen Land leben sie im Schatten ausrangierter Militärhubschrauber und Kleinflugzeuge, beschützt von französischen Soldaten. Einige warten seit Monaten auf die Ausreise, sei es per Flugzeug oder in militärisch bewachten Fahrzeugkonvois. Ohne den Schutz der ausländischen Soldaten wären sie schon lange tot, angegriffen von den brutalen Anti-Balaka-Milizen. Sie waren im vergangenen Jahr in den christlichen Gemeinden zunächst zur Verteidigung gegen muslimische Rebellen entstanden, gehören aber inzwischen selbst zu den Aggressoren dieses Konflikts.
Über 10.000 Menschen sind seit Dezember in dem Bürgerkrieg der Zentralafrikanischen Republik getötet worden, die meisten davon sind Muslime. Auch Minoos Mann Matak. Die Mörder sprachen von Rache. Es begann damit, dass die Séléka, eine Allianz überwiegend muslimischer Rebellengruppen, im März 2013 die Regierung des mehrheitlich von Christen bewohnten Landes stürzte. Es war mehr ein Raubfeldzug als ein Umsturz, die Rebellen plünderten und mordeten. Die Wut der Bevölkerung aber richtete sich nicht allein gegen die Kämpfer, sondern gegen die gesamte muslimische Minderheit im Land.
Aus einem Krisenstaat ist damit endgültig ein gescheiterter Staat geworden. Mit 2,2 Millionen Menschen ist inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen, schätzen die Vereinten Nationen, die vor einem Genozid warnen. 650.000 Menschen mussten aus ihren Häusern fliehen. Seit Monaten ist die Séléka in den Norden zurückgedrängt, der muslimische Präsident Michel Djotodia durch die Christin Catherine Samba-Panza ersetzt - und damit eine der Kernforderungen der Anti-Balaka-Milizen erfüllt. Das Morden aber geht weiter. Manchmal still: Der Regen hat eingesetzt, und die Ernte ist wegen des Krieges schwach. Das Land befindet sich am Rande einer Hungerkatastrophe.
Um sechs Uhr morgens, mit den ersten Sonnenstrahlen, hatte Minoo ihre Kinder losgeschickt, im Gepäck 200.000 CFA-Franc, etwas mehr als 200 Euro. Es hatte sich unter den Flüchtlingen herumgesprochen, dass ein Taxifahrer im Kofferraum Kinder zu einer Lagerhalle in der Stadt schmuggelt, an der Lastwagen für die Fahrt nach Kamerun beladen werden. Einige der Fahrer verstecken sie für umgerechnet knapp 30 Euro zwischen der Fracht und bringen sie in das benachbarte Kamerun. Ihrem Onkel war die Flucht dorthin gelungen. Sie solle die Kinder schicken, hatte er am Telefon gesagt. Bei ihm seien sie sicher.
Die Mutter überlegte lange, ob sie das Risiko eingehen solle. Doch in den Krankenhäusern der Stadt behandelt das Kinderhilfswerk Unicef Hunderte Kinder, Opfer von Irrläufern, immer wieder aber auch von direkter Gewalt. Muslime, egal ob Kinder oder Alte, werden brutal getötet, wenn sie eines der schützenden Flüchtlingslager verlassen. Die Regenzeit hat eingesetzt, und mit ihr wird das Leben im Lager noch gefährlicher. Unicef warnt vor einem Cholera-Ausbruch, überschwemmte Straßen machen eine Flucht noch unwahrscheinlicher. Eine lange Umarmung, dann hatte Minoo die Kinder losgelassen. "Schick mir alle zwei Stunden eine SMS, Bébé."
Wieder drückt der zitternde Daumen die grüne Anruftaste. Es klingelt einmal, zweimal. Und dann hört sie eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Tränen schießen ihr in die Augen, nun zittert die ganze Hand. Es ist nicht die Stimme ihres Mädchens, sondern die eines Mannes: "Deine Kinder sind bei uns. Morgen sind sie tot, wenn du nicht 900.000 Franc (rund 200 Euro) zahlst."
Das Auto war an einem der Checkpoints der Anti-Balaka angehalten worden, so wie es sie zu Dutzenden in Bangui gibt. Der Fahrer flüchtete, ihre Kinder blieben zurück in der Gewalt der Miliz. Ein Todesurteil, für sie - und für jeden, der das Geld in eine von der Anti-Balaka kontrollierte Gegend überbringen würde. Minoo begräbt ihr Gesicht in den Händen. Zum ersten Mal seit Stunden hat sie das Handy aus der Hand gelegt. Ihre Schreie hallen schrill in den Hangar. Sie stoßen auf Ohren, denen die Akustik des Todes nur allzu gut vertraut ist.
Eine Gruppe älterer Männer tritt zu der Mutter. Sie hatten ein paar Meter entfernt gestanden, direkt bei den drei morschen Schreibtischen, an denen die Behörden versuchen, die Flüchtlingsmassen in endlos langen Listen zu registrieren. Handschriftlich, Strom ist knapp, der Generator überlastet. Einer stützt die Frau, die nur mühsam die Kraft aufbringt, um von der Entführung zu berichten. "Wir können das Geld aufbringen, aber die Übergabe ist zu gefährlich", sagt er. "Die Franzosen müssen uns helfen."
Schließlich ruft der Mann die Entführer erneut an. Man werde das Geld den Soldaten geben, sie würden es bringen, schlägt er vor. Es folgt eine hitzige Diskussion, bis die Entführer auflegen. "Sie wollen, dass wir das Geld übergeben", sagt der Mann, dessen Frau zusammen mit dreien seiner fünf Kinder vor wenigen Wochen von der Anti-Balaka getötet wurden. Keiner sagt etwas. Diese Stille klingt schmerzhafter als jeder Schrei.
Auf einer von Autos verstopften Straße stellt sich am nächsten Tag Emotion Brice Namsio als Sprecher der Anti-Balaka vor. Dieser Titel zeugt von einer gewissen Hybris, allein in Bangui gibt es sechs Anti-Balaka-Gruppen. Die Bewegung ist zu zersplittert, um mit einheitlicher Stimme zu sprechen, aber Namsio gehört zu den rund 1000 Männern von Patrice Edouard Ngaissona, dem ehemaligen Minister für Sport und Jugend, und damit zur einflussreichsten Organisation. Ngaissona ist einer der reichsten Männer des Landes, er hat seine Finger im Diamantenhandel, importierte Tausende Autos in die Zentralafrikanische Republik. Ein Drahtzieher im Maßanzug und mit Villa in Paris.
Und Namsio ist einer seiner wichtigsten Handlanger. Damit hat sein Wort Gewicht. Er trägt ein gebügeltes rotes Hemd mit Stehkragen, dazu Goldkette, die Haare sind säuberlich auf wenige Millimeter geschoren. Der 33-Jährige sieht nicht aus wie einer der typischen Anti-Balaka-Kämpfer, die in archaischen Posen mit AK-47 und Machete die Stadt dominieren. Eher wie einer der aufstrebenden Hip-Hop-Sänger des Kontinents.
Seit Wochen verhandelt die Regierung mit Unterstützung der ausländischen Armeen im Land über die Entwaffnung der Anti-Balaka. Kurzfristig verlangen Ngaissonas Leute Geld, langfristig politische Ämter und die Integrierung ihrer Kämpfer in die Armee. Viele ihrer Kämpfer sind ehemalige Soldaten des im vergangenen März gestürzten Präsidenten François Bozizé. Namsio muss in diesen Tagen seine Truppe als aufrichtige Organisation verkaufen.
Er habe am Tag zuvor von der Entführung gehört und sofort gehandelt, erzählt er. "Das sind falsche Anti-Balaka, Verbrecher, die unser Land kaputt machen", gibt er zu Protokoll. Als er mit seinen Leuten angerückt sei, um die Geiseln zu befreien und für "Recht" zu sorgen, hätten diese umgehend die Flucht ergriffen. Er sei gegen Erpressungen. Immer mehr Menschen kommen hinzu, und Namsio klingt inmitten des Straßenlärms beinahe staatsmännisch.
Vor ihm stehen die drei entführten Kinder. Das linke Auge des kleinen Douads, 6, ist zugeschwollen. Der Junge habe versucht zu flüchten und sei gestürzt, erklärt Namsio, dabei habe er sich im Gesicht verletzt. Den Kindern aber gehe es insgesamt gut, "wir haben sie gerettet". Stolz schwingt in der Stimme. Der Anblick ist bizarr. Namsio legt die Hand auf die Schulter von Fadoul, wie ein fürsorglicher Vater. Hinter ihm warten seine Männer, einer hält gut sichtbar eine Handgranate in die Luft, zwei andere posieren mit AK-47-Gewehren. Ein muslimischer Mann ist in einem Mercedes vorgefahren, der Händler hatte sich bereit erklärt, die Kinder abzuholen, nachdem ihm Namsio am Telefon seine Sicherheit garantiert hatte. Nervös nestelt er an seiner Baskenmütze. Doch bevor der Anti-Balaka-Sprecher die Geiseln freigibt, setzt Namsio seine Rede fort.
"Die Menschen dieser Stadt haben unter der Herrschaft der Séléka sehr gelitten, wir haben sie aus der Hölle befreit", sagt er. Passanten stimmen lautstark zu, obwohl er in dem Chaos auf dieser staubigen Straße kaum zu hören ist. Straßenhändler zerren Karren, Motorrad-Taxis schlängeln sich vorbei im täglichen Kampf um das Nötigste. "Wir wollen nicht töten, wir sind alle gleich", sagt Namsio, "unser Kampf richtet sich gegen Gotteskrieger aus dem Sudan und Tschad." Er wolle, dass die Muslime im Land bleiben. Die Menschen bleiben nun still. Keine zustimmenden Rufe. Viele von ihnen denken anders.
Nun steigt der Mann mit der Baskenmütze erneut aus seinem Auto aus, deutet auf die Uhr. Es ist schon später Nachmittag, mit der Sonne weicht der letzte Schutz, er will endlich die Kinder zur Mutter bringen. Namsio nickt, er nimmt die Hand von der Schulter der Ältesten. Die Kinder eilen auf die Rückbank. Der Fahrer fährt ruppig an, weg von hier, so schnell es irgendwie geht weg. Nur wenige Straßen weiter hatte ein paar Tage zuvor ein Taxifahrer seine Fahrgäste gegenüber Passanten als Muslime identifiziert - die Männer wurden am helllichten Tag gelyncht.
Die Anti-Balaka-Gruppe von Ngaissona hat Combattant, ein Waldstück am Stadtrand von Bangui, zu ihrem Quartier gemacht. Der von dem Politiker eingesetzte Kommandant, ein Mann namens Sylvestre, hat einem Besuch zugestimmt. Der Weg zu ihm führt an den Überresten zweier verbrannter Autos vorbei, 2000 Studenten der Universität von Bangui hatten sich hier eine Straßenschlacht mit den Soldaten der Afrikanischen Union (Misca) geliefert.
Es ging nicht um Religion. Sie demonstrierten, weil der Staat seit September keine Studienbeihilfen mehr bezahlt hat. Die Misca-Soldaten lösten die Versammlung schließlich mit Gummi-Geschossen auf, bei vergleichbaren Gelegenheiten war auch schon mit tödlicher Munition geschossen worden. Der Staat ist pleite, auch Lehrer und Polizisten haben über Monate kein Gehalt bekommen. Deshalb hat die ohnehin schon weit verbreitete Korruption im Land ein neues Ausmaß erreicht.
Das betrifft mitunter auch Journalisten: Bei der Einwanderungsbehörde hatte sich der Beamte geweigert, trotz vollständiger Papiere das Visum für die Recherche auszustellen. 400 Dollar seien fällig. Erst nach einer Woche ließ sich der Mann auf 70 Dollar runterhandeln. Die Pässe von Mitarbeitern eines ausländischen TV-Senders gingen mysteriös in der Behörde verloren - und tauchten ebenso überraschend wieder auf, nachdem über 1000 Dollar gezahlt wurden.
Prince, der Fahrer, hantiert am MP3-Player seines Autoradios, bis er das Lied gefunden hat, das er jeden Tag hört. "Formidable, fooormidable", singt der belgisch-ruandische Rapper Stromae, "tu étais formidable, j'etais fort minable." Du warst wundervoll, ich war so erbärmlich - ein banaler Text über die Vergänglichkeit der Liebe, doch die schwere Melancholie in der Stimme des Sängers passt zu der Krise in Bangui. Prince singt mit. "Formidable... Fooormidable ...tu étais..."
Plötzlich Schüsse. Sie schlagen nur ein paar Meter entfernt ein, direkt am Straßenrand. Staub peitscht die Luft. Menschen preschen auseinander, verstecken sich hinter den Trümmern eingerissener Mauern. "Kopf runter", ruft Prince und reißt das Lenkrad herum. Mit Vollgas fährt er auf der Gegenfahrbahn zurück, hält erst einen Kilometer weiter an. "Die Tschader", sagt Prince nur, während er sein Auto auf Schäden absucht.
Die Mehrheit der Soldaten der Afrikanischen Union stammt aus dem Tschad. Der militärisch übermächtige Nachbar im Norden hat eine lange Geschichte der Interventionen in der Zentralafrikanischen Republik, waltete in dem Land teilweise, als handele es sich um seinen Hinterhof. Ex-Präsident Bozizé macht "Spezialeinheiten aus dem Tschad" für seinen Sturz verantwortlich, sie hätten vor einem Jahr die Séléka-Rebellion gegen ihn angeführt. Der Politiker war bei Tschads seit 23 Jahren regierendem Präsidenten Idriss Déby in Ungnade gefallen, weil er Déby-kritische Rebellengruppen auf seinem Terrain nicht konsequent genug bekämpft hatte. Ein Großteil der gewaltigen Ölquellen des Tschads befindet sich in der Nähe der fast 1000 Kilometer langen Grenze zwischen den beiden Ländern.
Es waren die Tschader, die in den vergangenen Monaten die endlosen Fahrzeugkolonnen der muslimischen Bevölkerung bei ihrer Flucht beschützt haben - und mutig Menschenleben gerettet haben. Doch in Bangui glauben viele, dass die teilweise modernen Waffen der Séléka von der Armee des Tschads stammen. Immer wieder kommt es deshalb zu Zusammenstößen zwischen der Anti-Balaka und den Soldaten, die eigentlich mit UN-Mandat den Frieden sichern sollen. Der Tschad ist derzeit nicht-ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und argumentierte dort, wenn auch ohne Erfolg, gegen die Entsendung einer Blauhelmmission in die Zentralafrikanische Republik. Déby wollte die Angelegenheit innerafrikanisch regeln.
Die Fahrt geht weiter. Prince umfährt die Stelle, an der gerade noch geschossen wurde, auf einigen Schleichwegen durch ein Armenviertel. Die Gewalt begleitet seinen Alltag seit Monaten, er kann sich einen Schock nicht leisten. Und er hat Schlimmeres erlebt. Die Angriffe im Dezember auf die muslimische Bevölkerung, als binnen weniger Tage über 1000 Menschen in der Stadt starben. Ihre Körper säumten den Straßenrand.
"Formidable ... fooormidable", schallt es wieder aus den alten Lautsprechern des Autoradios. "Tu étais formidable, j'étais fort minable."
Die Zeit eilt, der Termin mit dem Anti-Balaka-Kommandeur steht an. Sein Lager hat er geschickt gewählt, man kann es leicht bewachen. Aus der Stadt führt lediglich eine zerklüftete Straße her, selbst ein Geländewagen kann an vielen Stellen kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit fahren. Ein auf Ziegelsteinen befestigter Ast versperrt die Straße. War es bis vor einigen Monaten noch die Séléka, die Banguis wichtigste Zufahrtsstraßen kontrollierte, sind es nun die Anti-Balaka.
Zwei junge Männer schauen grimmig in das Auto. Einer hält ein Maschinengewehr, der Kolben ist mit einem ausgefransten, schwarzen Klebeband am Lauf befestigt. Die Anti-Balaka gelten als schlechter bewaffnet als die Séléka, die meisten ihrer Opfer starben durch Macheten. Imposanter aber sieht eine Schusswaffe allemal aus, selbst wenn sie defekt ist.
Natürlich war ihnen der Besuch angekündigt worden. Per SMS. Doch die Männer zögern einen Moment. Prince, der Fahrer, greift in das Handschuhfach. Er nimmt die Zigarettenschachtel, gibt vier durch das geöffnete Fenster. Zwei pro Person - die gängige Straßenmaut des Landes. Eine halbe Stunde, fünf Checkpoints und 20 Zigaretten später endet die Fahrt vor brüchigen Lehmhütten. Auf Plastikstühlen sitzen die "Befreier von Bangui", einige trinken selbst gebrautes Bier. Hühner laufen frei herum, aus einer Musicbox blechert Hip-Hop. Durch die Bäume hindurch sieht man den nicht einmal einen Kilometer entfernten Flugzeughangar, in dem Minoo und ihre befreiten Kinder auf die Ausreise hoffen. Gleich dahinter ist ein Lager mit 60.000 christlichen Flüchtlingen.
Sylvestre sei auf dem Weg, sagt ein Kämpfer namens Fortuné und bietet während der Wartezeit Platz auf klapprigen Holzbänken an. Es sei ein besonderer Tag, fährt er fort. Erstmals könne die Anti-Balaka beweisen, dass im Zuge der Séléka-Revolution Dschihadisten das Land als Unterschlupf nutzen. Seine Leute hätten vor einigen Tagen einen bewaffneten Mann festgenommen, der eindeutig ein fundamentalistischer Gotteskrieger sei. In seinem Pass hätten sich Einreisestempel aus dem Jemen befunden, man sei sicher, dass er dort in einem Terrorlager geschult worden sei. Auf seinem Handy seien ausschließlich arabische Namen eingespeichert gewesen, der Mann sei schwer bewaffnet gewesen und habe nicht glaubhaft erklären können, warum er eingereist sei.
Nur noch ein Anruf für die letzten Details, dann werde man den Gotteskrieger holen. Immer lauter telefoniert er, geht auf und ab, schließlich brüllt Fortuné in das Handy, fuchtelt mit der freien Hand wild in der Luft. Als er aufgelegt hat, bricht es aus ihm heraus. "Diese verdammten Idioten. Sie haben ihn getötet, gestern, ohne Befehl." Wie und warum, das weiß er nicht. Wichtig ist ihm nur, dass sein angeblicher Beweis nicht länger vorzeigbar ist.
Die nigerianische Terrorsekte Boko Haram, die nach eigenen Angaben Verbindungen zum al-Quaida-Netzwerk pflegt, hatte zuletzt angekündigt, ihre Aktivitäten auf die Zentralafrikanische Republik auszuweiten. Entsprechende Belege ist die Anti-Balaka-Propaganda bislang schuldig geblieben. Die Séléka verzichtete bei der Begründung ihrer Offensive bislang auf jegliche religiöse Rhetorik. Auch der ehemalige Séléka-General Mohamed Moussa Dhaffane dementierte Anfang März eine Verbindung mit fremden Extremisten. "Das ist ein gefährliches Spiel von fehlgesteuerten Menschen." Mit der Überhöhung der religiösen Dimension solle von der anhaltenden Marginalisierung der muslimischen Bevölkerung abgelenkt werden.
Doch Frankreichs Staatsoberhaupt François Hollande wird im Zusammenhang mit dem französischen Militäreinsatz bedroht. Auf der Webseite der islamistischen Organisation Al-Minbar Jihadi Media Network wurden sechs Poster hochgeladen, auf denen zu Anschlägen auf französischem Boden aufgerufen wird: "An unsere einsamen Wölfe in Frankreich: Richtet diesen Präsidenten der Ungläubigen und Verbrecher hin. Erschüttert und bombardiert diese Regierung, um die Verletzlichen in der Zentralafrikanischen Republik zu unterstützen."
Die Muslime in der Zentralafrikanischen Republik werfen den 2000 französischen Soldaten vor, die Séléka entwaffnet zu haben, damit ein Machtvakuum geschaffen und dann die Morde der Anti-Balaka tatenlos geduldet zu haben. Ein Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sah, wie die Miliz vor den Augen französicher Soldaten angebliche Séléka-Söldner tötete. Die seit Langem geplante Entwaffnung der Anti-Balaka wird nur quälend langsam vorangetrieben.
Wer ein wenig Zeit mit den Männern von Ngaissona verbringt, dem kommen dann auch erhebliche Zweifel an den edlen Worten, die ihr Sprecher Emotion Namsio bei der Geiselübergabe gesprochen hat. Rund die Hälfte sind ehemalige Soldaten, viele aber schlicht einfache Jungs vom Land. Undiszipliniert - und vor allem brutal.
Sie tragen einfache T-Shirts, einer ein Trikot von Bayern München, kaum einer verfügt über militärische Ausrüstung. Geschützt vor den Kugeln der Séléka aber glauben sie sich alle. Um die Oberarme haben sie Gris-gris geschnallt. Das sind kleine Beutelchen mit Pulvern und Amuletten, die sie vermeintlich unverwundbar machen. Ein Medizinmann hat sie ihnen angefertigt. Strippenzieher Ngaissona hat auch hier seine Finger im Spiel. Der Voodoo-Zauberer wohnt auf seinem Anwesen im Nordosten Banguis.
Doch an diesem Samstagnachmittag scheint der Krieg eine Pause zu machen, es gibt wenig zu tun. Die Männer verspotten einen Jugendlichen, der lediglich eine bunte Boxershorts und ein weißes Unterhemd trägt. Er sitzt einfach da, gegen einen Baum gelehnt. Sie haben ihm einen Kochtopfdeckel auf den Kopf gelegt, machen grinsend Fotos.
Es handele sich um einen Dieb, einen weiteren "falschen Anti-Balaka", erklärt Fortuné. Eine Patrouille habe ihn mit Handys und Schmuck im Rucksack erwischt. "Er behauptet, er ist einer von uns, aber er klaut nur von den Leuten hier." In vielen Teilen der Stadt ist die Miliz nicht mehr erwünscht, weil ihre Mitglieder allzu oft auch von Christen stehlen.
Der Kommandant soll entscheiden, was mit dem Dieb passieren soll. Sylvestre fährt vor, er steigt aus einem nagelneuen Nissan-Geländewagen. Er trägt ein edles schwarzes Hemd, Lederschuhe und reichlich Parfüm. Unter Bozizé war er ein hochrangiger Militär, fünf Männer salutieren eilig, als er vorbeimarschiert. Er ist nicht in der Stimmung für ein Interview, die Nachricht des gegen seine Anordnung getöteten Dschihadisten hat dem angetrunkenen Kommandanten die Laune verdorben.
"Wer ist das?", fragt er und zeigt auf den Dieb mit dem weißen Unterhemd. Einer seiner Leute berichtet ihm, zeigt auf das Diebesgut. Sylvestre hört eine Weile zu. Er schaut auf den Gefangenen hinab. "Du bringst Schande über uns", sagt er. Der junge Mann schaut in seinen letzten Momenten auf den Boden. Den ersten Tritt versetzt ihm Sylvestre, wild schimpfend, selbst. Der Mann fällt auf die Seite. "Wir machen dich heute fertig", spricht Sylvestre das Todesurteil.
Binnen Sekunden schlägt die träge Stimmung im Lager in blinde Aggressivität um. Sylvestre hat sich abgewendet, ein Mann, der die rote Trainingshose des FC Barcelona trägt, tritt nun immer wieder mit seinen schweren Armeestiefeln gegen den Kopf des Gefangenen. Längst bewegt sich sein Opfer nicht mehr, aus einer klaffenden Wunde an der Stirn strömt Blut. Zum Schluss nimmt sein Mörder drei Schritte Anlauf, wie ein Fußballtorhüter beim Abstoß. Als die Männer von ihm ablassen, ist ihr Gefangener tot. Seine Augen starren ins Leere.
Plötzlich sind auch Gäste nicht mehr willkommen, das Interview mit Sylvestre ist nonverbal abgesagt. Zudem sind die Zigaretten aufgebraucht. "No cigarettes, no journalists", schimpft einer, während andere die Leiche in einen Schuppen tragen. Prince hat den Wagen angelassen. "Ruhig einsteigen und weg hier", sagt er leise. Er entschuldigt sich bei den Männern für die fehlenden Zigaretten. Er gibt einem einen 1000-Franc-Schein, umgerechnet knapp zwei Euro. Erst jetzt darf das Auto das Gelände verlassen.
Die aktuelle Kapazität der 2000 französischen und 6000 afrikanischen Soldaten reicht schon für Bangui kaum aus, auf dem Land konnte sich die Spirale der Gewalt noch ungebremster entwickeln. Der UN-Sicherheitsrat bewilligte Anfang April eine 12.000 Mann starke Friedenstruppe, es wird mit geschätzten Kosten in Höhe von 600 Millionen Dollar der drittgrösste UN-Einsatz nach dem Kongo und dem Sudan. Vor September aber werden die zusätzlichen Soldaten in Bangui wohl aus logistischen Gründen nicht ankommen. Die Europäische Union schickt bis zu 1000 Soldaten aus 13 Nationen, Optimisten glauben, sie könnten nach langen Verzögerungen nun schon im Mai einsatzbereit sein. "EUFOR RCA Bangui", so die offizielle Bezeichnung, soll vor allem zur Sicherung des Flughafens der Hauptstadt Bangui beitragen. Deutschland wird mitwirken, wenn auch voraussichtlich nur mit rund zehn Soldaten, einem Sanitätsflugzeug und zwei angemieteten Transportflugzeugen vom Typ Antonow.
Bossangoa, 300 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt gelegen, gehört zu den Orten, an denen im vergangenen September die Gewalt zuerst eskalierte. Über Generationen hatten Christen und Muslime hier friedlich zusammengelebt, in den gleichen Dörfern, die Kinder waren zur gleichen Schule gegangen. Im Zuge von Revolution und Gegenrevolution aber suchte die komplette Bevölkerung in Flüchtlingslagern Unterschlupf. 40.000 Christen auf dem Gelände der Mission catholique, der katholischen Kirche, 2000 Muslime nur ein paar Meter weiter in einer Schule, der École de Liberté.
In der Gegend wurde Bozizé geboren, von dort stammt auch der Anti-Balaka-Drahtzieher Ngaissona. Noch heute schickt der Geschäftsmann zweimal wöchentlich in einem großen gelben Schulbus Lebensmittel für die Bevölkerung von Bangui nach Bossangoa, wo einige der ersten Widerstandsgruppen entstanden. Und noch immer verstecken sich Séléka-Rebellen in diesem Teil des zentralafrikanischen Urwalds. Die Mehrheit der Christen im Flüchtlingscamp seien inzwischen in die umliegenden Dörfer zurückgekehrt, in den Notunterkünften würden sich noch etwa 10.000 Christen und 1000 Muslime befinden, hatte eine Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen (MSF) vor Ort am Telefon erzählt. Die Organisation leistet in einem Notfallcamp seit Monaten herausragende Arbeit.
Gibt es an dem Ort, an dem sich das Grauen so brutal entfaltete, eine Chance auf Versöhnung? Sechs Stunden dauert die Fahrt von Bangui. Im Gepäck sind zwei Kanister mit 40 Liter zusätzlichem Benzin, es muss für den Hin- und Rückweg reichen, bis nach Bossangoa gibt es keine Tankstelle. Im Handschuhfach lagern neue Zigaretten. Acht Schachteln. Straßenmaut.
Normalerweise ist die Strecke eine bedeutende Wirtschaftsroute des Landes, das fast die doppelte Fläche Deutschlands aufweist. Doch auf dem Weg kommen uns nur wenige Lkws entgegen, die Wirtschaft des Landes ist mit der Flucht der Muslime zum Erliegen gekommen. Sie kontrollierten den Transportsektor, die meisten großen Lastwagen waren in ihrem Besitz. Tausende Fahrzeuge sind seit Beginn der Krise gestohlen oder zerstört worden.
Am Straßenrand laufen immer mehr Menschen, die Wellblechteile tragen. Männer, Frauen und Kinder bilden regelrecht eine Kette, die zu einer der größten Moscheen der Stadt führt. Oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben ist: Es stehen nur noch die Grundmauern. Die Inneneinrichtung und Fenster wurden schon vor Wochen geplündert, nun tragen sie das Dach ab. Am Ende werden wohl auch die Mauern eingerissen werden. Von den einst über tausend Moscheen des Landes ist nicht einmal mehr ein Dutzend intakt.
In Zèré, einem Dorf 30 Kilometer außerhalb von Bossangoa, hatte die Séléka bei ihrem Marsch auf Bangui eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, nahezu alle Häuser auf dem Weg geplündert und verbrannt. Über Monate hatten die Bewohner im Urwald gelebt. Längst nicht alle wählten den Weg in die Flüchtlingslager. Viele entschieden sich, ihr Hab und Gut zu verstecken, verbliebene Kühe und Ziegen zu hüten - das letzte Kapital. Wer um die Brutalität der Séléka und ihre grausamen Foltermethoden weiß (bei der "Arbatasher"-Technik werden Füße und Ellenbogen hinter dem Rücken zusammengeschnürt und immer enger aneinandergezurrt), der kann erahnen, was die Menschen hier durchlitten haben.
Inzwischen sind fast alle Häuser wieder aufgebaut. Bis auf die, in denen die rund 100 Muslime gelebt haben. Keiner ist im Dorf geblieben. Einige wurden getötet, die meisten flüchteten, als die Anti-Balaka-Gruppen und oft auch einfache Bürger zurückschlugen. Faustin Dore, der Dorfvorsteher, sitzt vor seiner Hütte, um den hageren Mann haben sich Dutzende versammelt.
Keiner der Muslime im Dorf kannte die schwer bewaffneten Männer, die über das Dorf herfielen, einige sprachen nicht einmal ihre Sprache. Sie hatten sich mit muslimischen Peuhl verbündet, einem in der Gegend seit Langem aktiven nomadisierenden Hirtenvolk, mit dem es schon seit vielen Jahren Konflikte gibt. Ihre Rinder zerstören die Felder der Kleinbauern. Die meist bewaffneten Peuhl sind immer wieder für Morde in der Gegend verantwortlich. Doch woher kommt der Hass auf jene, mit denen sie über Jahre den gleichen Brunnen teilten?
Faustin Dore ist der Schmerz des vergangenen Jahres ins Gesicht geschrieben. Tagelang hatte die Séléka ihn in einem Toilettenhäuschen eingesperrt, bis die Bewohner schließlich 50.000 Franc (77 Euro) Lösegeld zahlten. "Die Muslime aus unserem Dorf haben der Séléka die Häuser der Reichen gezeigt", sagt er leise, "wir haben wegen ihnen unsere Brüder begraben. Wegen ihnen mussten wir im Busch leben, unter Bäumen schlafen, hatten über Wochen hinweg kein frisches Wasser." Sie hätten mit den Séléka in den geplünderten Häusern gelebt. Die Rebellen hätten die Muslime schließlich in das Flüchtlingslager evakuiert, als die Anti-Balaka zurückgeschlagen hätte. Nun versuche man, die Trümer zu beseitigen. Aber die Schule, die Krankenstation seien zerstört, "einfach alles. Wie können wir das jemals verzeihen?"
Ein verkohltes Rechteck zeugt von den Grundmauern der abgebrannten katholischen Kirche. Einige Bänke stehen in der Mitte. An Sonntagen findet hier unter freiem Himmel der Gottesdienst statt. Das Predigt-Pult hat den Brand überstanden. Es ist aus Metall und nun wellig verbogen, die Bibel aber kann an ihm noch immer vorgelesen werden. Passagen, in denen von Vergebung die Rede ist, sind in diesen Tagen nicht gefragt.
Nur 200 Meter weiter verrotten die Überreste der Moschee. Drei Pfeiler, die einst das Dach hielten, ragen kahl gen Himmel. Ein Jugendlicher tritt in die Mitte des zerstörten Raums. Er sinkt auf die Knie, hebt den Oberkörper und senkt ihn zum lehmigen Boden. Dorfbewohner stehen am Rand. Sie lachen angesichts des imitierten muslimischen Gebets. Einer tritt hinter den Jungen. Er nimmt einen großen Ziegelstein und hebt ihn auf, ganz so, als wolle er ihm gleich den Schädel einsteigen. Gelächter belohnt den grausamen Spott.
Immer wieder betonen Analysten, es handele sich bei dem Konflikt in Zentralafrika nicht unbedingt um einen religiösen, dieser Aspekt werde von Politikern auf beiden Seiten instrumentalisiert. Doch anhand des Glaubens unterscheiden sie in den Dörfern Gut und Böse. Seit Wochen reisen Imame und Pfarrer gemeinsam durch das Land, um Aussöhnung werbend. "Unmöglich", sagt Dore, der Dorfvorsteher, "wir wollen hier nie wieder Muslime sehen."
Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen hatten tags zuvor erzählt, dass auch viele Muslime zu den Opfern der Revolution gehörten. Die Séléka plünderte oft wahllos, und in den Häusern der Muslime gab es mehr zu holen. Sie dominierten traditionell den Handel, die Viehzucht und den Transport des Landes, waren wohlhabender als die meisten Christen. Niemand kann die Situation in Bossangoa besser beurteilen als die MSF, die lange die einzige Hilfsorganisation vor Ort war und die UN im Dezember in einem offenen Brief ungewöhnlich scharf für ihre späte und verhaltene Reaktion auf die humanitäre Katastrophe kritisiert hatte.
Unter dem Konflikt leidet die gesamte Nation, die schon zu Friedenszeiten zu den ärmsten der Welt gehörte. Die Massenflucht schwächt die Wirtschaft. Vor einer Hyperinflation bewahrt das Land der Umstand, dass es mit dem CFA-Franc eine Gemeinschaftswährung mit 13 anderen afrikanischen Ländern hat, die an den Euro gekoppelt ist. Die Preise steigen jedoch derzeit enorm.
An der zum Notlager umfunktionierten École de Liberté von Bossangoa spricht Imam Ismail Nafi das Nachmittagsgebet. Aus Zeltplanen und Ästen haben die Flüchtlinge eine improvisierte Moschee gebaut. Der Wind weht Staub auf die ausgebreiteten Gebetsteppiche. In der Hand hält der ergraute Geistliche die Misbaha, eine islamische Gebetskette. Anhand der 99 Perlen zählt er die Wiederholungen seiner Lobpreisung für das Werk Allahs. Dunkel klingt seine Stimme nach draußen, wo Frauen vor den Eingängen der Notunterkünfte fegen. Die monotone Wiederholung der gleichen Verse hat etwas Beruhigendes.
Nach einer halben Stunde ist Nafi fertig, tritt vor das Zelt. Er erzählt von den Attacken der Anti-Balaka am 5. Dezember, als 22 Muslime im Ort getötet wurden. Die Bevölkerung sei völlig wehrlos gewesen, die französischen Truppen hätten wenige Tage zuvor die Séléka entwaffnet. "Wir können nicht arbeiten, schon der Weg zum Markt ist lebensgefährlich", sagt Nafi, "wir müssen hier weg, das ist klar." In der Gegend sind noch immer viele Séléka aktiv, und keiner weiß, wie lange sie das ausländische Militär von weiteren Übergriffen abhalten kann. Tausende seiner Gemeinde wurden von den Misca-Soldaten in die Grenzregionen zum Tschad eskortiert, von dort flüchten viele ins Nachbarland. Es finde regelrecht eine ethnische Säuberung statt, warnte Human Rights Watch. Ob dies nun die Absicht sei oder eine kollektive Bestrafung, der muslimischen Bevölkerung, das Ergebnis sei identisch: das Verschwinden von alteingesessenen Gemeinden.
"Aber wir wollen nicht in den Tschad ", sagt Nafi, "die Zentralafrikanische Republik ist unsere Heimat." Die verbliebenen Flüchtlinge sollen innerhalb der kommenden Wochen in die 175 Kilometer entfernte Stadt Paoua umziehen. Der Ort gehört zu den wenigen im Westen des Landes, in die Muslime zurückkehren. In Bossangoa, so scheint es, ist die ethnische Säuberung in absehbarer Zeit unumkehrbar.
Nafi nestelt an der Gebetskette, sein Blick schweift ins Leere. Natürlich würde er gern eines Tages zurückkehren in diese einst so verschlafen-ruhige Stadt am Ouham River mit seinen Flusspferden. "Ich bin hier geboren, das wird immer meine Heimat bleiben." Aber rechnen tut er mit Frieden in den kommenden Jahren nicht. Daran könne auch die neue Interimspräsidentin Catherine Samba-Panza nichts ändern. "Sie versucht, die Lage in den Griff zu kriegen, ich kann ihr wenig vorwerfen", sagt er, "aber geändert hat sich nichts. Vielleicht irgendwann."
Auch er ist der Meinung, dass der Konflikt zunächst keine vorrangig religiöse Dimension gehabt habe. Der Vormarsch der Séléka sei nach all den Jahren des politischen Scheiterns von Bozizé richtig gewesen. "Seine Beamten haben sich dann geweigert, unter einem muslimischen Präsidenten zu arbeiten, und haben mit den Problemen begonnen", sagt der Imam. Das Land habe davor ausschließlich christliche und überwiegend erfolglose Präsidenten gehabt, "warum sollten wir nicht auch einmal regieren? Wir haben die Wirtschaft dieses Landes vorangetrieben."
Dass Djotodia gewaltsam und nicht demokratisch an die Macht kam, spielt für ihn keine Rolle. In der von Militäraufständen geprägten Geschichte der Zentralafrikanischen Republik gab es noch nie einen friedlichen Machtwechsel. Es sagt einiges über das Land aus, dass sich viele mit Respekt an den verschwendungssüchtigen Diktator Jean-Bédel Bokassa erinnern, in den siebziger Jahren Inbegriff einer korrupten und brutalen politischen Elite des Kontinents.
Auf dem Rückweg nach Bangui ist die Zahl der Straßensperren der Anti-Balaka geringer als noch am Vortag. Kurz vor der Hauptstadt liefert sich ein Misca-Soldat ein lautstarkes Gefecht mit rund einem Dutzend Jugendlichen, hinter ihm steht Verstärkung, die Waffen im Anschlag. Der kräftige Soldat geht zur Bekräftigung seiner Worte drohend auf die Anti-Balaka-Kämpfer zu, um deren Straßensperre aufzulösen. In den vergangenen Wochen ist es vermehrt zu Kämpfen zwischen den Anti-Balaka und den Misca-Truppen gekommen, seit Mitte März gab es dabei über 20 Tote.
"Von nun an betrachten wir die Anti-Balaka als Feinde", teilte der kongolesische General Jean-Marie Michel Mokoko Ende März mit, "sie feuern sogar auf jene, die hier sind, um die Krise im Auftrag des zentralafrikanischen Volkes zu beenden. Und dazu gehören sie doch selbst." Man werde sie für ihre Attacken zur Verantwortung ziehen.
Darauf hofft auch Ibrahim Alawad. Er ist einer der letzten verbliebenen Muslims im Stadtzentrum von Bangui, rund 3000 Muslime leben in der Siedlung PK12, dem einstigen Wirtschaftszentrum. Sie wollen weg, müssen weg. Doch bislang gab es keine Möglichkeit, sie sicher aus dieser Gefahrenzone zu eskortieren. Auf den umliegenden Straßen patroullieren französische Soldaten, versuchen Kämpfe der Anti-Balaka mit den Séléka-Truppen in PK12 zu unterbinden.
Alawad ist ein kräftiger Mann, heute aber sind seine Schultern eingefallen. Er hat Malaria, die Krankheit droht ihm die letzten Kräfte zu rauben. Doch seine Botschaft will er trotzdem loswerden. Der 52-Jährige stellt sich als Händler und Sprecher der muslimischen Gemeinde vor. "Wir erlauben auch einigen Christen, bei uns zu leben", sagt er, "wir haben kein Problem." Er schimpft auf die Franzosen, die Tod anstelle von Schutz bringen würden und es auf das Uranium und die Diamanten des Landes abgesehen hätten.
Er zerrt einen Jungen hervor, an dessen linkem Arm eine Wunde klafft. Letzte Nacht habe ihn ein Granatensplitter der Franzosen getroffen, behauptet Alawad. "Sie müssen gehen und ihre Korruption mitnehmen", ruft er. Weder sie noch die Soldaten würden sie vor den mordenden Anti-Balaka-Banden schützen. "Uns ist jede Hilfe recht, auch die von al-Qaida", wütet er. "Dieses Land wird das schlimmste aller Länder sein."
Dann entschuldigt er sich. Die Malaria, ihm sei erneut übel. Langsam geht Alawad hinter seinen Schuppen. Später werden ein lokaler Journalist und ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation unabhängig voneinander erzählen, dass es sich bei Alawad keineswegs um einen Händler handele. Er stamme aus dem Sudan und sei einer der brutalsten Séléka-Kommandanten, habe viele Menschen getötet. Es ist nicht leicht, in diesem Konflikt zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden. Prince drückt im Auto eine Taste des MP3-Players. "Formidable …", singt er, "foooormidable …"