„Diese Droge zerstört deine Seele"
In Südafrikas Townships wütet eine neue Droge. Nyaope besteht aus minderwertigem Heroin, angeblich werden Rattengift und HIV-Medikamente hinzugemischt. Ein Szenebesuch
Von Christian Putsch
Diepsloot – Am schlimmsten ist das Aufwachen. Wenn die Magenkrämpfe jede Bewegung zur Qual machen, die Finger zu sehr zittern, um den nächsten Nyaope-Joint zu drehen. Zombie-Zeit, nennt das Wessels. Schon wenige Stunden Entzug machen den 27 Jahre alten Südafrikaner zum lebenden Toten. Oft hat er in der Nacht die letzten Vorräte verbraucht. Dann zieht er im Morgengrauen quälend langsam durch die staubigen Wege des Johannesburger Townships Diepsloot. Pro Kilogramm Alt-Plastik, das er sammelt, bekommt er an einem Recycling-Hof 1,50 Rand. Umgerechnet 0,1 Euro. Wenn sein riesiger Sack gefüllt ist, 20 Kilogramm schwer, hat er genug Geld für das nächste Tütchen mit dem weißen Pulver. Und zwei Stunden Zeit. Dann kehrt der Entzug zurück.
Wessels folgt dem Rhythmus der Droge, die ihn und die meisten südafrikanischen Townships fest im Griff hat. Er sitzt im Schatten einer verfallenen Wellblechhütte, die simbabwischen Immigranten als Kirche dient. Passanten ziehen vorbei, doch Wessels versucht nicht einmal, die winzige Tüte mit dem weißen Nyaope-Pulver zu verstecken. Sie gehört längst zum Alltag in Diepsloot. Routiniert holt Wessels die anderen Zutaten aus seiner Hosentasche. Den Tabak, ein Blättchen, die Streichholzschachtel mit dem Marijuana, in Südafrika nur „Weed“ genannt. Innerhalb weniger Sekunden hat er die Droge zusammengebaut.
Ein Feuerzeug klickt. Er zieht den Rauch ein, hält ihn in der Lunge. Acht, vielleicht zehn Sekunden lang, bis die Augen starr werden und sein Körper immer wieder zuckt. Endlich atmet er den Rauch aus, der ihm alles genommen hat. Er sinkt in sich zusammen, die verkrampften Muskeln entspannen. Ein Lächeln. „Ich fühle mich wie im Himmel“, sagt er, „glücklich.“ Er steht langsam auf. „Ich sehe wieder alles. Ich werde diesen Sack voll mit Flaschen machen“, verkündet er wirr. Bis zu den nächsten 30 Rand, dem nächsten Nyaope-Trip.
Wohl noch nie hat eine Droge sich so schnell in Südafrika verbreitet. Im Jahr 2000 wurden die Behörden erstmals auf das minderwertige Heroin aufmerksam, das mit kaum weniger schädlichen Substanzen vermischt wird. „Da ist Rattengift drin“, glaubt Wessels, „das verlängert den Rausch.“ Bislang gab es erst eine umfangreiche Studie zu Nyaope. Das war im Jahr 2013, in keiner Probe wurde Rattengift gefunden. In Durban hält sich dagegen das Gerücht, das vor allem das antiretrovirale HIV-Medikament Efavirenz, zu dessen Nebenwirkungen Halluzinationen gehören, zum Strecken verwendet werde. Mehrere Diebstähle in Krankenhäusern wurden mit der Droge in Verbindung gebracht. Doch auch von HIV-Medikamenten wurden lediglich in einer Probe Spurenelemente gefunden. Üblicher sind offenbar Mehl und Babypuder, selbst von Batterie-Säure berichteten Süchtige.
Für mehr Forschung besteht angesichts des hohen Suchtpotenzials dringender Bedarf. „Nyaope gehört zu den meist verbreiteten Drogen im Großraum Johannesburg“, sagt Polizeisprecher Lungelo Dlamini, „junge Erwachsene stehlen buchstäblich alles, um die Droge zu besorgen. Auch von ihren Eltern und Nachbarn.“ Der Nährboden ist bestens: Beinahe Zweidrittel der 15 bis 34-Jährigen sind arbeitslos, die Zukunftsperspektiven dürftig. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) bezeichnete Nyaope „als großes Problem, gemessen an der wachsenden Zahl von Berichten der Öffentlichkeit, Polizei und Sozialarbeitern“. Südafrikas Präsident Jacob Zuma machte kürzlich bei einem Besuch in einem Armenviertel in Pretoria eine Kampfansage. „Die Drogendealer zerstören dieses Land“, beklagte er, „wir werden das nicht zulassen.“
Doch für Wessels scheint der Kampf verloren. Seit sechs Jahren hängt er an der Tüte, wie er sagt. Damals war es noch eine, geteilt mit Freunden. Inzwischen raucht er zehn am Tag, wenn er genug Geld hat. Zum Kauf von Essen bleibt ihm wenig, meistens reichen ihm ohnehin ein paar Kekse – Nyaope raubt alles, auch den Hunger. „Ich habe Angst, dass ich an diesem Monster verrecke“, sagte er, „diese Droge zerstört deine Seele. Aber das akzeptiere ich. Es ist zu schwierig.“
Seine Mutter im 400 Kilometer entfernten Bloemfontein lässt er noch immer glauben, er arbeite bei der Stadt Johannesburg als Wachmann. Sie hält an diesem Glauben fest, ließ sich den Schrecken über seinen Gesichtsverlust nicht anmerken, als er sie neulich besuchte. Wessels hatte über 50 Tütchen mitgenommen, aus Angst, dass er vor Ort keinen Dealer findet. Die Sorge war unbegründet, „das Zeug gibt es inzwischen überall“. Sogar im Gefängnis, in dem er fünf Wochen wegen Ladendiebstahl saß. Es dort aufzutreiben sei „kein großes Problem“.
Seit dem Jahr 2014 steht auf den Besitz von Nyaope bis zu 15 Jahren Haft. Für den Verkauf sogar bis zu 25 Jahre. Wessels Dealer Obet, ein hoch aufgeschossener Mann mit frisch gewaschenem Polo-Shirt und Foto des zweijährigen Sohns im Portemonnaie, hat dennoch keine Angst vor einer Verhaftung. Die Polizei vermeldet landesweit kaum nennenswerte Erfolge gegen das Nyaope-Netzwerk. Warum, das wird in Diepsloot deutlich. Die örtlichen Beamten kennen Obet, alle paar Tage fragen sie nach „Lunch Money“ – Geld zum Mittagessen. Erwartet würden dann rund 300 Rand, für 20 Euro schließt sich das Auge des Gesetzes.
Einst verkaufte er Gemüse in der Provinzstadt Pietermaritzburg, später in einer Bäckerei. Nun verkauft er Nyaope im Wert von über 100 Euro am Tag. Er befindet sich am unteren Ende der Nahrungskette. Der Großteil geht an die nigerianischen Produzenten in Johannesburg, die den Handel dominieren. Obet bleiben rund 50 Euro am Tag – ein Vielfaches seiner bisherigen Gehälter. „Ich will meinen Sohn auf eine ordentliche Schule schicken“, sagt er im Hinterhof einer informellen Kneipe.
Seine Frau weiß von seinem schmutzigen Handwerk, der Drogenhändler blockt ihre Kritik rigoros ab. Er hat versprochen, vorsichtig zu sein. Keiner seiner Kunden weiß, wo er wohnt. Obet verkauft mindestens einige Kilometer von seinem kleinen Haus entfernt, es gibt zu viele Geschichten von Überfällen auf die gut verdienenden Händler, auch in den eigenen vier Wänden. Und er hat versprochen, die Droge mit dem hohen Suchtpotenzial niemals selbst zu nehmen. Es fällt ihm leicht, Wort zu halten. Sie hat zu viele seiner Kunden vor seinen Augen buchstäblich zerfressen.
Das Problem wird von den Behörden totgeschwiegen – mit tödlichen Folgen für Hunderte. Süchtige wie Wessels oder Kriminelle wie Obet zu verhaften, wäre keine Lösung. Das glaubt zumindest der Professor für Familienmedizin an der Universität Pretoria, Jannie Hugo. „Die Regierung betrachtet Nyaope aus dem Blickwinkel der Kriminalität und nicht als Gesundheitsproblem“, sagt er, „wenn das so bleibt, wird Nyaope ähnlich wie einst HIV außer Kontrolle geraten.“ Dort habe man in Südafrika auch jahrelang alleine auf Prävention gesetzt und sich modernen Behandlungsmethoden verweigert.
Die Kriminalisierung, argumentiert der Professor, halte viele Süchtige davon ab, sich an die Beratungsstellen zu wenden. Diese sind ohnehin äußerst dürftig ausgestattet. Südafrikas Behörde für Alkohol- und Drogenabhängige „Sanca“ hat eine Beratungsstelle in Diepsloot eingerichtet, doch täglich gibt es nur Kapazitäten für sieben Nyaope-Patienten. Und die Opium-Ersatzstoffe, für den Entzug nahezu unverzichtbar, sind im öffentlichen Gesundheitssystem nur in Ausnahmefällen verfügbar.
Die Zeit eilt. Es werde übersehen, dass sich Nyaope negativ auf andere Gesundheitskrisen auswirke, sagt Hugo. „HIV- und Tuberkulose-Infizierte nehmen ihre Medizin nicht mehr, auch auf geschützten Geschlechtsverkehr verzichten die meisten.“ In den ärmeren Gemeinden gebe es große Sorge. Wenn er aber an Gesprächen mit Politikern teilnehme, werde deutlich, dass es „zum Ausmaß und Intensität nicht die geringste Vorstellung“ gebe. Stattdessen benutzte die einflussreiche Ministerin für Frauen, Susan Shabangu, die Droge neulich zur Beschimpfung der Oppositionspartei „Economic Freedom Fighters“. Bei deren Unterstützern handele es sich um „Nyaope-Junkees“. Hugo hält die Ignoranz der Politik schlicht für dumm: Umgerechnet rund 60 Euro monatlich müssten für die Medikamente jedes Nyaope-Süchtigen budgetiert werde. „Die gesellschaftlichen Folgekosten sind um ein Vielfaches höher“, sagt der Professor.
In Diepsloot nimmt Wessels den letzten Zug aus seinem Nyaope-Joint. Er hat Brandwunden an den Fingern, so weit lässt er ihn herabbrennen. Der Schmerz kommt erst nach dem Hoch. So manch klarer Gedanke aber bleibt. Ohne die Droge denke er, dass er sterbe. Und mit ihr? Die Worte kommen langsam. „Ich habe kein Ziel“, sagt er, „jeder braucht doch etwas, auf das er hinlebt.“ Für ihn ist es der nächste Nyaope-Joint. Viel besser als der Tod sei das nicht.