Am Rande der Hungersnot
Ostafrika erlebt die schlimmsten Dürren seit über einem Jahrzehnt. Das hat besonders in den von Konflikten betroffenen Ländern verheerende Auswirkungen. Ein Besuch bei den äthiopischen Nomadenhirten in Afar.
Am Vortag wurden wieder 2 Kinder zu Grabe getragen. Wie an den meisten Tagen im Flüchtlingsdorf Debel Na Halebayir. Sie hatten aus einem schmutzigen Fluss getrunken, in der Nähe des Dorfes in Äthiopiens Afar-Region. Dort sind Hunderte Flüchtlinge untergebracht, die im Januar vor dem Krieg in der benachbarten Tigray-Region geflohen sind. Abdalla Salih, 47, ist einer von ihnen, er erzählt niedergeschlagen, aber ohne grosse Emotionen von dem Verlust der befreundeten Familie. Der Bewohner des Dorfes hat in den vergangenen Monaten selbst 2 seiner 14 Kinder verloren. Ihm sind die Tränen versiegt.
Im Osten Afrikas offenbart sich derzeit deutlich, wie tödlich die Kombination von bewaffneten Konflikten und jahrelangen Dürren sein kann. Schon in friedlichen Gebieten des Kontinents wären die Herausforderungen von 3 nahezu ausgebliebenen Regenzeiten kaum zu bewältigen. Nun aber sind gleich 2 der betroffenen Länder vom Krieg geschwächt. In Äthiopien mindert ein brüchiger Waffenstillstand die Folgen des Tigray-Krieges nur wenig ab. Und in Somalia, das einer Hungersnot so nahe wie kein anderes Land steht, ist die Verteilung von Lebensmittelnothilfe bisweilen lebensgefährlich. Teile des Landes werden von der islamistischen Al-Shabaab-Miliz kontrolliert.
„Wir haben hier kein Essen, kein sauberes Wasser, keine Ärzte”, sagt Salih, „wir müssen zurück, so schnell wie möglich.“ Im Radio sagen sie, dass die Kämpfe in seiner Heimat aufgehört hätten, aber so ganz kann Salih das noch nicht glauben. Das Geld für die Rückreise seiner Familie, umgerechnet mehrere Hundert Franken, hat er auch nicht, so wie viele der über 300.000 Flüchtlinge in Afar. Und es fehlt noch etwas Grundlegendes: Das Vertrauen, selbst im Frieden wieder eigenständig überleben zu können.
3 Regenzeiten in Folge sind am Horn von Afrika zuletzt weitgehend ausgefallen. Bleibt auch die aktuelle dürftig, wäre es am Horn von Afrikas das erste Mal seit 40 Jahren, dass die Niederschläge in 4 aufeinanderfolgende Regenzeiten deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Damals starben allein in Äthiopien mindestens 500.000 Menschen, im grossen Umfang wurde im Rahmen der von Bob Geldorf organisierten „Live-Aid-Konzerte“ Spenden gesammelt.
Diesmal droht bis zu 20 Millionen Menschen in Kenia, Äthiopien und Somalia bis Ende des Jahres eine Hungersnot, warnt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Besonders in Somalia, das wie 14 andere afrikanische Länder über die Hälfte seiner Nahrungsmittel importiert, ist die Lage dramatisch. Jeder 2. dort muss Unterernährung befürchten.
Während das Leid in Tigray und Somalia internationale Aufmerksamkeit erzeugte, leiden die Menschen in Äthiopiens Afar-Region unbemerkt. Nicht einmal 4% der Bevölkerung leben in der kargen Gegend, politisch marginalisiert – wie Hirtennomaden in vielen afrikanischen Ländern. Während die USA die von Äthiopien lange blockierten Lebensmittellieferungen nach Tigray mit der Drohung von Sanktionen durchsetzten, sassen noch im Mai die Hilfslieferungen für Afar in einem Depot der Stadt Semera fest. Die äthiopischen Behörden erschwerten lange den Transport, es ging um die banale Frage, ob die für die Auslieferung vorgesehenen LKWs einen Anhänger haben dürfen.
Besuch bei einer Frau, die aus Australien stammt, aber längst als „Stimme der Afar“ gilt. Valerie Browning, 71, gründete vor 30 Jahren die Hilfsorganisation „Afar Pastoral Development Association“ (APDA), versucht die Lebensumstände der Menschen dort zu verbessern. „Es ist, als wäre Afar nicht auf der Landkarte“, sagt Browning, „Tausende Häuser wurden von der TPLF zerstört, die Leute sind reihenweise weggestorben.“
Doch auch die Existenz derer, die nicht unmittelbar von der Gewalt betroffen sind, ist gefährdet. Viele Hirten verkauften bis zum Beginn der Kämpfe ihre Ziegen in erster Linie nach Tigray. Mit der Kriegsregion aber ist Handel weiterhin unmöglich. Die lange Trockenperiode zwang die meisten Hirten dazu, ihre Rinder und Ziegen dennoch auf örtlichen Märkten anzubieten. Bevor sie verhungern.
Das Angebot stieg so immer weiter, die Nachfrage sank – entsprechend sind die Preise eingebrochen. Und von den Erlösen lässt sich kaum noch etwas kaufen. Die Folgen des Ukraine-Krieges haben die ohnehin schon hohe Inflation weiter angeheizt, für Lebensmittel beträgt sie inzwischen über 40%.
Die Folgen erlebt Browning jeden Tag. Die Zahl der Menschen, die in den kommenden Monaten wohl auf Lebensmittelnothilfe angewiesen seien, habe sich verdoppelt, es seien in einigen Gegenden inzwischen 95%. „Viele Kinder haben seit vielen Monaten keine Milch getrunken, weil die Eltern ihre Tiere verkaufen mussten“, sagt Browning, „wir haben deshalb schrecklich viele unterernährte Kinder – und auch Mütter.“
Für sie gibt es kaum Versorgung. Mit der Unterstützung der Stiftung ihrer verstorbenen Mutter betreibt sie ein gynäkologisches Krankenhaus. 9 Mütter liegen auf der Station, ambulant lassen sich hier Tausende kostenlos behandeln. „Eine komplizierte Schwangerschaft kann in Afar den Tod bedeuten“, sagt Browning, „deshalb nehmen viele Schwangere lange Reisen auf sich, um zu uns zu kommen.“ Dank der Einrichtung ist es gelungen, die Sterblichkeit von Müttern und Neugeborenen in den umliegenden Bezirken auch während der aktuellen Dürre zu senken.
Browning hält sich an den wenigen Hoffnungsschimmern fest. Etwas Regen zuletzt zum Beispiel. Die meisten Familien aber haben kaum noch Tiere, die Australierin versucht Mittel zu generieren, um ihnen beim Kauf von neuem Bestand zu helfen. Die einzige langfristige Existenzgrundlage.
Sie ist für Hirten wie Ali Ibrahim, 68, gefährdet. 2 Frauen und 20 Kinder hat er, seine halbrunden Zeltbauten aus Zweigen und geflochtenen Matten hat er am Rand einer Landstrasse aufgebaut. 10 Rinder hat die Familie noch, vor der Dürre waren es 20. „Einige sind gestorben, einige musste ich verkaufen“; sagt er, „es gab zu wenig Regen. Und bis auf einen Sack Weizen von der Regionalregierung haben wir keine Hilfe bekommen.“
Ibrahim plagt die Sorge, dass er auch seine letzten Tiere verlieren könnte. Er zeigt auf seinen ergrauten Bart: „Das ist die Farbe der Angst. Vor 2 Jahren war der noch schwarz.“