Der vergessene Krieg
Äthiopien galt lange als der Stabilitätsanker Ostafrikas – bis zum Tigray-Krieg. Der Konflikt bleibt trotz möglicherweise Hunderttausender Tote eine Randnotiz im Vergleich zur Ukraine. Ein verheerender Fehler, wie eine Reise an die Front zeigt
Alle paar Minuten versperrt ein zerfleddertes Seil die Straße. Gespannt von grimmigen Soldaten der äthiopischen Armee. Ausweiskontrolle. Suche nach dem Feind. Die aufständische „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (TPLF) war Ende 2021 aus Äthiopiens nördlichster Region Tigray hierher vorgedrungen, in den angrenzenden Amhara-Bundesstaat. Ziel: die Hauptstadt Addis Abeba. Erst im Januar drängte die Armee die TPLF-Truppen mit hastig aus der Türkei gelieferten Drohnen aus Amhara zurück.
Solche Straßenkontrollen sind heikel. Noch einige Tage zuvor verbrachte unser Fahrer die Nacht auf der Polizeistation. Bei einem Fahrgast war ein in Tigray ausgestellter Führerschein gefunden worden. Verhaftung aller im Auto, bis sich zeigte, dass der Mann nicht zu den rund sieben Millionen Tigrayern in Äthiopien zählte. Und schon gar nicht zur TPLF. Er hatte einst in Tigray gearbeitet. Das reichte.
Ausgebrannte Panzer am Straßenrand erinnern an den TPLF-Vormarsch. Die nun wohl einzigen verbliebenen Tigrayer in der Gegend sind nur noch wenige Kilometer entfernt. Rund 1100 Tigrayer leben im „Camp Jare“. Ein Flüchtlingslager, sagt Äthiopien. Es handele sich vielmehr um Konzentrationslager, halten Tigray-Aktivisten dagegen – die Insassen dort würden festgehalten.
Vor 18 Monaten begannen in Tigray die Kämpfe. Laut Kalkulationen der belgischen Universität Gent wurden mindestens 50.000 Menschen getötet. Tatsächlich aber könnte der Konflikt den Forschern zufolge 250.000 weitere Menschenleben gekostet haben, die wegen der abgeschnittenen Versorgungswege an Hunger gestorben sind – oder infolge fehlender Medizin.
Der Konflikt erschüttert die Grundfeste des von Inflation, Dürre und ethnischen Spannungen erschütterten Äthiopiens – diesem vermeintlichen Stabilitätsanker am chronisch instabilen Horn von Afrika. Die TPLF hatte während der 1980er Jahre den Kampf gegen Diktator Mengistu Haile Mariam angeführt, kam 1991 an die Macht, obwohl nur jeder 15. Äthiopier Tigrayer ist. Dort hielt sie sich mit autoritärem Regime und staatsgetriebener Wirtschaft knapp drei Jahrzehnte lang.
Bis Abiy Ahmed kam. Im Jahr 2018 verdrängte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter mit einer Koalition die TPLF. Gerade einmal 41 Jahre alt war er, überraschte mit politischer und wirtschaftlicher Öffnung sowie als Versöhner mit Eritrea – und wurde prompt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Übereilt.
Der Politiker kürzte Tigray und anderen semi-autonomen Regionen die Mittel. Als die TPLF eine Covid-bedingte Verschiebung der Wahlen ablehnte, kurzerhand eigenständig in Tigray abstimmen ließ, strich er sie ganz. Als die TPLF daraufhin einen Armeestützpunkt angriff, schlug Äthiopien innerhalb weniger Stunden zurück. Bald richtete sich auch das Nachbarland Eritrea gegen Tigray, die Gewalt eskalierte. Westliche Länder, darunter Deutschland, strichen die Budgethilfe.
Seit Ende März gilt zwischen TPLF und Äthiopiens Regierung ein „humanitärer Waffenstillstand“, der die Hoffnung nährt, dass es bald zu Verhandlungen und zu einem Ende der wirtschaftlichen Blockade Tigrays kommen könnte. Einige Flüge und LKW-Konvoys mit Lebensmittel-Nothilfe wurden zuletzt zugelassen, nachdem im vergangenen Jahr monatelang keine Lebensmittel in das Gebiet der Größe Niedersachsens gelangten.
Am „Camp Jare“ versperrt ein Dutzend Soldaten den Weg. 20 Minuten lang, trotz der Akkreditierung, die der WELT am SONNTAG nach fünf Monaten Wartezeit ausgestellt worden war. Schließlich wird einer der Bewohner geholt, ein Mann im Jacket. Er stellt sich als Habtom Mezebe vor. Er sei Tigrayer, aber kein TPLF-Unterstützer, sie habe ihn vielmehr zu Beginn des Krieges verhaftet, weil für die äthiopische Verwaltung gearbeitet habe. Er wolle den äthiopischen Soldaten für ihren Schutz danken, sagt er in deren Richtung, sie hören jedes Wort mit.
Dann drängt sich Yohannes Million nach vorne, ein abgemagerter Mann. Der 30-Jährige zeigt einen Ordner mit Zertifikaten aus England. Dort habe er seit seiner Jugend gelebt, mit zwei Kindern in London und einer unbeschränkten Aufenthaltsgenehmigung. Er wolle nur eines: zurück.
In Tigray sei er nur zu Besuch gewesen, als der Krieg ausbrach. „Es gab plötzlich keinen Weg zum Flughafen in Addis, Schmuggler haben mich aus Tigray rausgebracht“, erzählt er. Bei der Flucht verlor er alles, das letzte Geld, den Ehering, 30 Kilogramm Gewicht. Soldaten griffen ihn auf. „Ich darf das Lager nicht verlassen“, sagt er, „aber selbst wenn ich es dürfte, bräuchte ich eine Militäreskorte. Die Leute hier sind wütend.“
Weiterfahrt am nächsten Morgen. Zur Wut. Nur noch 50 Kilometer von Tigray entfernt, ist sie im Stadion der Stadt Weldiya allgegenwärtig. Es ist voller Soldaten. Nicht von Äthiopien. Die Amhara, das zweitgrößte Volk des Landes, hat seine eigenen Streitkräfte massiv ausgebaut. 300 strammstehende Uniformierte werden für die Vollendung ihres Militärtrainings geehrt. Mit Pauken und Trompeten.
Jugendbewegung werden die 15.000 schwerbewaffneten „Fanos“ verharmlosend genannt. Derzeit sind sie bei Abiy wohlgelitten, schließlich helfen sie im Krieg gegen Tigray, mit dem die Amhara Streit über die Grenzziehung haben. Doch was ist danach? In der Regierung in Addis gibt es Stimmen, derartige Milizen zu entwaffnen. Ein riskantes Unterfangen, sie wachsen schließlich auch bei den Oromo, der größten Ethnie des Landes. Kritiker weisen auf derartige Entwicklungen hin, wenn sie die Gefahr eines Auseinanderbrechens Äthiopiens im Stile Jugoslawiens beschreiben.
Noch aber eint der gemeinsame Feind. Eine Gruppe Fanos erklärt sich bereit, uns mit an die Front zu nehmen. In einem Wald warten 80 Kämpfer, darunter auch einige Frauen. Uniformen, Maschinengewehre, meterlange Munitionsgürtel, seit acht Monaten harren sie im Busch aus. Lehrer, Bauern und Verkäufer im Kriegsmodus. Angetrieben vom Schmerz: Fast alle haben Verwandte verloren, als die TPLF Ende 2021 einmarschierte.
Die TPLF behauptet seit Wochen, sich aus der Region zurückgezogen zu haben. „Eine Lüge“, sagt Fano-Anführer Kasshun Sissay, der bis zum Krieg ein ruhiges Leben als Ingenieur führte, „wir sehen sie doch in den Bergen.“ Da seien überall Scharfschützen. In Amhara glauben sie, dass sich die TPLF lediglich neu formiere, um die Gegend erneut zu besetzen. Sissay sagt: „Das werden wir verhindern.“ Dass auch die Fano weiterhin auf dem Gebiet Tigrays kämpft, erwähnt er nicht.
Was aber kommt nach dem Krieg? Die Männer sagen, dass Äthiopien vereint bleiben werde. Mit Tigray. Aber ohne die TPLF. „Sie muss eliminiert werden“, sagt Sissay, „daran darf es keinen Zweifel geben.“ Ob er sich erst als Amhara oder Äthiopier sehe? Der 37-Jährige überlegt kurz. „Zunächst einmal bin ich ein Amhara, das ist die Basis“, sagt er, „wenn ich Respekt spüre, dann fühle ich mich auch als Äthiopier.“
Daran hängt die Zukunft des Landes – und an einer Landstraße in Afar, der zweiten an Tigray angrenzenden Region. Sie ist aktuell der einzige Zugang nach Tigray für die Lebensmittel-Transporte des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP). Im vergangenen Jahr blockierte Abiy die Straße effektiv. Ende des Jahres, als der Vormarsch der TPLF gestoppt werden konnte, lenkte er ein, auch wegen drohender Sanktionen.
Die Hilfsgüter kamen trotzdem nicht an. Diesmal blockiert von den Afar. Denn auch hier starben Hunderte bei den Kämpfen mit der TPLF. In einem Flüchtlingsdorf in der Nähe wurden am Vortag zwei Kinder begraben, sie hatten aus einem verdreckten Fluss getrunken. Es überrascht nicht, dass viele Afar Lebensmittellieferungen in die Gegend des Feindes ablehnen – zumal es auch für diese Volksgruppe nicht genug Lebensmittelhilfe gibt.
Einige der Fahrer erzählen, wie sie bis vor einigen Monaten auf der Strecke verprügelt wurden. Aber auch, wie sich der Zugang zuletzt verbessert hat, nachdem es erfolgreiche Verhandlungen mit der Afar-Regionalregierung gab. Es kommen jedenfalls derzeit wieder Lebensmittel in Tigray an, wöchentlich 3000 Tonnen. Nicht genug, aber immerhin.
Doch Tigrayern, die in Afar geboren sind, schlägt weiter blanker Rassismus entgegen. Wir treffen im Morgengrauen einen jungen Mann. Er erzählt, wie er mit Hunderten anderen Tigrayern verhaftet wurde. Mit 28 Bussen seien sie abtransportiert worden, in ein Gefängnis gesteckt worden. „Wir haben reckiges Wasser und ein Brot am Tag bekommen“, sagt er. Der pauschale Vorwurf: Unterstützung der TPLF.
Nach vier Monaten kam er frei. Doch er steht wie Millionen Tigrayer weiter unter Generalverdacht. Ihre Konten bleiben meist eingefroren, Geschäfte wurden enteignet, Besitz gestohlen. Auch der Mann in Semera verlor sein Mofa-Taxi Bajaj. Nun mietet er eines, versucht, das Nötigste zu verdienen.
Und nicht aufzufallen. Bei seinen Fahrten spricht er so wenig wie möglich. Sein Tigrinya-Dialekt könnte ihn verraten. Schweigen, eine Überlebensstrategie.