Christian Putsch

Über die Familie

Christian Putsch
Über die Familie

Afrika ist der letzte Kontinent mit hohem Bevölkerungswachstum. Doch in diesen Tagen findet ein Umdenken statt, auch im besonders schnell wachsenden Tansania. Wir haben eine Mutter von acht Kindern getroffen, die ihre Entscheidung für eine Großfamilie bedauert. Und junge Frauen, die sich auf ihre Karriere konzentrieren wollen

Irgendwie reicht es zum Überleben. Zwei Mahlzeiten am Tag für alle acht Kinder, gezahlt vom Taxifahrer-Gehalt des Vaters. Beim Schulgeld wird es dann meistens knapp, obwohl Theodora Jonas Lungela, die Mutter, täglich Kartoffeln auf dem Markt verkauft. „Ich liebe jedes meiner acht Kinder von Herzen“, sagt Lungela, 42, „aber es wäre einfacher gewesen, wenn ich nur für vier kämpfen müsste.“ Vergeblich suchen die beiden ältesten Söhne trotz Schulabschluss nach Arbeit. Heute würde sich die Frau aus einem Dorf in der Nähe von Tansanias Haupstadt Daressalam gegen eine derart große Familie entscheiden.

Damit liegt Lungela durchaus auf Linie mit Tansanias Präsidentin Samia Suluhu Hassan. Sie fällt beim Thema Familienpolitik mit einem bemerkenswerten Richtungswandel im Vergleich zu John Magufuli auf, ihrem im Jahr 2021 verstorbenem Vorgänger. Während Magufuli steigende Bevölkerungszahlen als Instrument für wirtschaftliches Wachstum pries und Benutzer von Verhütungsmitteln als „faul“ beschimpfte, setzt Hassan auf besonnene Reden zur Familienplanung.

Ende Oktober zum Beispiel. Da wurde mit beachtlichem Aufwand der neue Zensus des ostafrikanischen Landes vorgestellt. Die Volkszählung bestätigte die UN-Vorhersagen, denen zufolge Tansania zu den acht Ländern zählt, die für die Hälfte des weltweiten Bevölkerungswachstums bis zum Jahr 2050 verantwortlich sein werden. Eine Tatsache, die wohl am Dienstag (15. November) verstärkt ins Bewusstsein treten wird, an dem die Weltbevölkerung laut Kalkulationen der Vereinten Nationen die Marke von acht Milliarden Menschen überschreiten wird.

Die Bevölkerung Tansanias stieg von knapp 45 Millionen im Jahr 2012 auf über 60 Millionen. Das bedeutet ein jährliches Wachstum von 3,2 Prozent, eine der höchsten Raten der Welt. Damit der Umfang der sozialen Leistungen pro Einwohner auch nur konstant bleiben kann, wäre das dreifache Wirtschaftswachstum nötig, sagen Ökonomen – also knapp zehn Prozent. Tatsächlich sind es rund fünf Prozent.

Hassan sprach von „einer Bürde, wenn es für die Zuteilung von Ressourcen und sozialen Leistungen geht“. Nur einige Wochen zuvor hatte sie bereits hochrangigen Politikern ihrer Regierungspartei widersprochen, die nach wie vor die Lehre ihres Vorgängers Magufuli vertreten. „Wie viele Klassenräume, Gesundheitszentren und Tonnen von Lebensmitteln werden benötigt werden?“, fragte sie. Und forderte salopp: „Die Bürger sollten etwas abbremsen.“ 4,8 Kinder hat die durchschnittliche Frau in Tansania.

Im weltweiten Durchschnitt ist das jährliche Bevölkerungswachstum unter ein Prozent gefallen, Afrika ist mit einem durchschnittlichen Wert von 2,7 zur Ausnahme geworden. Auch hier sinkt die Geburtenrate, vor allem im Süden und Norden des Kontinents – aber insgesamt doch deutlich langsamer als einst in Asien und Lateinamerika bei vergleichbarem Entwicklungsstand. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung Afrikas wohl auf 2,8 Milliarden verdoppeln. Tansania wird bis dahin den Berechnungen zufolge sogar um den Faktor 2,5 wachsen.

Doch derartige langfristigen UN-Prognosen sind mit Vorsicht zu genießen, hängen sie doch von Dutzenden Faktoren ab. Der Bildungsgrad der Mädchen ist dabei die relevanteste Korrelation, noch vor der Entwicklung des realen Pro-Kopf-Einkommens. So lag die Weltbevölkerung im Jahr 2000 um über 400 Millionen niedriger als im Jahr 1973 vorhergesagt (Link einfügen: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-05075-7_9 ). Die Statistiker hatten besonders das rapide Sinken der Geburtenraten in Asien unterschätzt, was nicht allein auf die strikte Ein-Kind-Politik Chinas zurückzuführen war. Könnte auch Afrika einen rascheren Rückgang erleben? In Tansania glaubt zumindest so manche Frau, dass sich die Gesellschaft schneller ändert, als es die kursierenden Prognosen vermuten lassen.

Dazu zählt Vicky Shayo, Anwältin aus Daressalam, 32, kinderlos. „Meine Mutter hat nie Druck auf mich ausgeübt, eine Familie zu gründen“, sagt sie, „ich möchte etwas beruflich aufbauen, mit einem stabilen Einkommen unabhängig sein und erst dann vielleicht ein oder zwei Kinder haben.“ Es gebe weit mehr Frauen als noch vor fünf Jahren, die wie sie denken würden, sagt Shayo, „das ist wirklich ein Trend.“

Auch politisch ist das Thema Familienplanung präsenter auf der Agenda vieler afrikanischer Regierungen als noch vor ein paar Jahren. Multinationale Initiativen wie „FP2020“ und die „Ouagadougou Partnership“ haben dazu geführt, dass sich die Zahl der Frauen, die verhüten, seit dem Jahr 2012 in Zentral- und Westafrika verdoppelt hat. Im Niger, dem Land mit dem schnellsten Bevölkerungswachstum der Welt, unterstützen weit mehr Imame als noch vor einigen Jahren Programme zur Familienplanung.

In Kenia, Ruanda und Äthiopien sanken die Geburtenraten zuletzt schneller als erwartet, auch wegen umfangreicher Kampagnen in ländlichen Gegenden. Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, verwendet inzwischen mindestens ein Prozent des Gesundheitsbudgets fest für „Sexuelle und Reproduktive Gesundheit“ bestimmt. Das mögen kleine Schritte sein. Aber immerhin Fortschritte.

In Tansania widersetzen sich jedenfalls immer mehr Frauen der gesellschaftlichen Erwartung, früh eine Familie zu gründen. Hidaya Dude zum Beispiel, 27, unverheiratet. Sie gehört zur muslimischen Mehrheit auf der Insel Sansibar. „Ich vermeide manchmal Treffen der Familie oder Gemeinde, weil die Leute sofort fragen, warum ich noch keine Kinder habe“, sagt sie. Viele in ihrem Alter hätten schließlich schon Großfamilien.

Dude aber hat schon ein Studium der „Interkulturellen Beziehungen“ in der Tasche, studiert nun Politikwissenschaften, will eine eigene Organisation gründen – und einen Mann finden, der das unterstützt. „Dann kann ich mir auch zwei bis drei Kinder vorstellen“, sagt sie, „aber ich muss stark sein, bevor ich eine Ehe eingehe.“

Da will sie sich von niemandem reinreden lassen.