Christian Putsch

Europas Ringen um die koloniale Schuld

Christian Putsch
Europas Ringen um die koloniale Schuld

Selten hat sich die Komplexität der Aufarbeitung europäischer Kolonialgeschichte so konkret offenbart wie in diesen Tagen in Namibia. Das Chaos um das von Unterhändlern eigentlich bereits akzeptierte Versöhnungsabkommen im Zuge der deutschen Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 geht weiter.

Während einige hochrangige Herero-Königshäuser und Kabinettsmitglieder in Namibia die Vereinbarung weiter ablehnen, gab es am Donnerstag erste Hoffnungszeichen. So sicherte der „Ovaherero/OvaMbanderu and Nama Council“ seine Zustimmung zu. Und Zed Ngavirue, der Chef-Unterhändler von Namibias Regierung, äußerte sich im Interview mit der „Deutschen Welle“ optimistisch, dass die ausgehandelte Vereinbarung mit Verzögerung bald doch noch unterschrieben wird. Bei den Abweichlern handele es sich um nicht einmal zehn Prozent der wichtigsten Herero-Chiefs. „Es gibt Leute, die an sich selbst denken – ihren Namen, ihr Ego“, sagte Ngavirue, „wir können uns nicht darum kümmern, was ein, zwei oder drei Chiefs sagen.“ 

Das ist ohne Frage eine Untertreibung. Die Chiefs des Landes präsentieren sich entzweit. Einige befürworten die Vereinbarung, andere lehnen sie ab. Zu viele Herero sahen sich bei den Verhandlungen nicht ausreichend repräsentiert. Sie fordern weiter die von Deutschland verweigerten Reparationszahlungen für den Völkermord an ihrer Volksgruppe in den Jahren 1904 bis 1908 anstatt der angebotenen regierungsgesteuerten Entwicklungsprojekte in Herero-Gegenden. Doch die namibische Regierung, darauf deuten die offiziellen Äußerungen zunehmend hin, scheint das Abkommen auch gegen Widerstände von durchaus einflussreichen Teilen der Herero durchziehen zu wollen. 

Das ist für die nachhaltige Aussöhnung beider Länder riskant, könnte doch am Ende der Eindruck einer weiteren europäischen Regierung bleiben, der die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit nicht so recht gelingt. Getrieben von dem weltweit wachsenden zivilgesellschaftlichen Druck im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) ist ohne Frage Bewegung in diesen lange verdrängten Bereich europäischer Geschichtsaufarbeitung gekommen. Doch es offenbart sich auch, wie ungelenk sich die ehemaligen europäischen Kolonialmächte dem Thema nähern. Deutschland ist nicht das einzige Land, das sich mit diesem historischen Kapitel schwertut. 

Der Umgang mit der Kolonialgeschichte führt in so manchem europäischen Land zu folgenschweren innenpolitischen Debatten. In Frankreich wird es im anstehenden Wahlkampf diskutiert werden. Und in England stammt so mancher elitäre Brexit-Drahtzieher aus Familien, deren Wohlstand ihren Ursprung im kolonialem Handel hat – und fällt, ähnlich wie Portugal, mit nostalgischem Geschichtsverständnis auf. 

Belgiens Königshaus sprach im vergangenen Jahr dem einst brutal unterworfenen Kongo sein „tiefstes Bedauern für die Wunden der Vergangenheit“ aus. 60 Jahre waren nach der Unabhängigkeit bis zu diesem ersten vagen offiziellen Eingeständnis der Kolonialverbrechen vergangen. 

Geopolitisch ist die Angelegenheit durchaus von Bedeutung. China profitierte bei seinem Aufstieg zum wichtigsten Akteur in Afrika auch von der fehlenden historischen Koloniallast. Die ohne Frage unzureichende Aufarbeitung der ausbeuterischen Vergangenheit belastet die europäisch-afrikanischen Beziehungen, die Europa mit Blick auf Migrationsströme, Handelsbeziehungen und den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus intensivieren will.

Nun könnte man argumentieren, dass die begangenen Verbrechen lange zurückliegen und es meist keine überlebenden Opfer mehr gibt. Und dass auch so manche Aufarbeitung von Bürgerkriegen in Afrika überfällig ist. In Nigeria dauerte es knapp ein halbes Jahrhundert, bis die dortige Regierung im Jahr 2017 Opfer des Biafra-Krieges entschädigte. Doch Europa tritt in Afrika gerade in Abgrenzung zu China oft mit erhobenem Zeigefinger auf, sei es bei Menschenrechtsverletzungen, Abschaffungen von präsidialen Amtszeitbeschränkungen oder Korruption. Die selektive Amnesie zur eigenen Vergangenheit auf dem Kontinent will zu diesem Moral-Kompass nicht so recht passen.

Die Kritik an derartigen Doppelstandards ist in Afrika nicht neu. Das Weltstrafgericht, zu dessen wichtigsten Geburtshelfern Deutschland zählte, wurde in den vergangenen Jahren von politischen Eliten in Kenia, Uganda und Namibia immer wieder als westlich geprägte Institution dargestellt. Als ein Gericht, das sich vor allem in Afrika begangenen Menschenrechtsverletzungen widmet, während Kriegsverbrechen der USA ungesühnt bleiben.

Zu einer uneingeschränkten Entschuldigung für Kolonialverbrechen scheint sich keine europäische Regierung durchringen zu wollen, könnte sie juristisch doch als Grundlage für Reparationsforderungen dienen. Außenminister Heiko Maas (SPD) kam der Sache nah. Deutschland wolle „um Vergebung bitten“ – für „Ereignisse“, die man „aus heutiger Perspektive“ als Völkermord bezeichnen müsse. Hinter der verklausulierten Formulierung verbirgt sich noch immer die Position, dass der Tatbestand des Genozids erst seit dem Jahr 1948 völkerrechtlich verbindlich geregelt ist und deshalb nicht rückwirkend auf frühere Verbrechen angewandt werden kann. Maas redet deshalb von einer „historischen und moralischen Verantwortung“. Das Wort „juristisch“ fehlt ganz bewusst.

Man kann davon ausgehen, dass diese rechtlichen Winkelzüge in Tansania und Burundi genau beobachtet werden. Beide Länder waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls im deutschen Besitz, und besonders in Tansania gibt es seit zwei Jahren lauter werdende Reparationsforderungen für Verbrechen während der deutschen Kolonialzeit in Ostafrika. „Mit der Anerkennung des Völkermordes im heutigen Namibia und der deutschen Entschuldigung ist der Geist aus der Flasche, damit ist der Präzedenzfall bereits geschaffen“, sagt Jürgen Zimmerer, Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg, „und das wird natürlich auch Auswirkungen auf Forderungen aus anderen ehemaligen deutschen Kolonialgebieten haben.“

Trotz der Probleme in Namibia findet Zimmerer, dass die dortigen Verhandlungen auch positive Ergebnisse hervorgebracht haben. „Man muss sagen, dass Deutschland im Vergleich zu ehemaligen Kolonialmächten wie England und Frankreich mit der Anerkennung der Verbrechen einen Schritt nach vorne gemacht hat, wenngleich die Umsetzung keineswegs vorbildlich war“, betont der Historiker.

Auch in Großbritannien steige der öffentliche Druck. „Doch die Regierung in London scheint eine gewisse Kolonialnostalgie schützen zu wollen“, sagt Zimmerer.  Die Regierung von Boris Johnson plant neue Gesetze und Schutzmaßnahmen, um BLM-Aktivisten die Entfernung und Zerstörung von historischen Denkmälern mit Kolonialbezug zu erschweren. Man lasse sich von Militanten die Vergangenheit nicht zensieren, hieß es. Im Jahr 2013 hat die britische Regierung Kenianern, die in den 1950er Jahren die Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstandes überlebt haben, jeweils einige Tausend Euro ausgezahlt. Doch viele derartige Beispiele gibt es nicht.

Frankreich ist da schon deutlich intensiver mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit in Afrika beschäftigt. Präsident Emmanuel Macron betreibt eine gezielte Neuausrichtung der französischen Afrikapolitik. Darunter fällt die Initiative zur Restitution afrikanischer Beutekunst, der Abschied von der postkolonialen Währung des Franc-CFA, die Neukonzeption der Frankophonie-Politik, aber vor allem die Anerkennung von Schuld und französischen Versagens, wie zum Beispiel während des Völkermords in Ruanda im Jahr 1994 an den Tutsi. Dort, so sagte Macron im Mai, habe sich Frankreich zwar nicht aktiv am Genozid beteiligt, aber doch „de facto an der Seite eines Völkermord-Regimes gestanden“. 

(7. Juni 2021)