Hoffen auf die Mittelschicht
Aufschwung, Innovation, geringeres Bevölkerungswachstum – in Afrika lasten große Hoffnungen auf der neuen Mittelschicht. Die Investorengruppe „Rendeavour“ hat sich darauf spezialisiert, ganze Städte für sie aus dem Boden zu stampfen, etwa Tatu City in Kenia. Aber an dem Mega-Projekt zeigen sich auch die Schwierigkeiten beim Aufstieg des Kontinents
Von Christian Putsch
Nairobi – Preston Mendenhall steigt auf einen provisorischen, aus Stahl errichteten Aussichtsturm in der Nähe seines Büros. Der Turm steht 20 Kilometer vom Stadtzentrum Nairobis entfernt. Von hier aus beobachtet der Manager mit Polo-Hemd und Seitenscheitel die Fortschritte des gigantischen Vorhabens seiner Firma: Der Bau einer gewaltigen Retortenstadt. „Tatu-City“ soll sie heißen, und 150.000 Einwohnern beherbergen. Die Größe: 15.000 Fußballfelder.
Mendenhall zählt zu den Kenia-Koordinatoren der internationalen Investorengruppe „Rendeavour“, die Tatu City aus dem Boden stampft. Er ist ein ruhiger Mann mit freundlichem Lächeln. Den Stress der vergangenen Jahre und die vielen Rückschläge lässt er sich nicht anmerken. Geduldig zeigt Mendenhall vom Aussichtsturm in Richtung der jüngsten Erfolge: Zu sehen sind erst einmal vor allem Felder, in der Ferne aber beginnt das ambitionierte Projekt, das Nairobi entlasten soll, zu wachsen. Zwölf Firmen sind bereits in Betrieb, 50 Firmen haben Grundstücke gekauft, nach Angaben von „Rendeavour“ haben sie Investitionen in Höhe von 600 Millionen Dollar zugesichert. „Wir könnten weiter sein“, sagt Mendenhall, „aber wir haben den kritischen Punkt überwunden.“
Es ist ein Geschäft mit einem seit lange währendem Versprechen: der afrikanischen Mittelschicht. Sie wächst – nicht in Relation zur Bevölkerung, aber in absoluten Zahlen. Die genauen Kriterien sind umstritten. Die Afrikanische Entwicklungsbank zählt ein Drittel der Afrikaner zur Mittelschicht, legt die Schwelle aber mit einem täglichen Einkommen von mindestens 2,20 Dollar am Tag denkbar tief.
Das Wachstum, in Asien und Lateinamerika ein wichtiger Faktor für das Ende der Bevölkerungsexplosion, wird von mangelnder Infrastruktur gebremst. Die UN gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung Afrikas – der Kontinent mit dem mit großem Abstand größtem Bevölkerungswachstum – bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird. 80 Prozent dieses Wachstums wird in den Städten und dort besonders in den Slums stattfinden, prognostiziert das „Weltwirtschaftsforum“ (WEF). Wenn es keine passende Infrastruktur gibt, auf die auch Mitglieder einer neu entstehenden Mittelklasse ausweichen können, dann wird ihr Wachstum erheblich abgebremst – fatal für die Zukunft des Kontinents.
Städte wie Nairobi sind schon jetzt überlastet. Mit Konsequenzen für die Haushaltskasse: Die „Weltbank“ hat neulich vorgerechnet, wie hoch die Lebenshaltungskosten in afrikanischen Städte im Vergleich zu Metropolen mit ähnlichem Einkommensniveau sind. Das Ergebnis: Sie sind um 29 Prozent teurer. Für Transport ist das Doppelte fällig, Unterkünfte kosten 55 Prozent mehr, das Essen 35 Prozent mehr – ein kaum zu verkraftender Dämpfer für die Wirtschaft. Ganze zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sei in Afrika während der Jahre 2009 bis 2015 für den Ausbau der Infrastruktur verwendet, so das WEF, in Indien (5,2 Prozent) und China (8 Prozent) sei es ein Vielfaches gewesen.
Projekte wie „Tatu City“ sind wichtig, damit die Mittelschicht wachsen kann – schließlich sind afrikanische Metropolen wie Nairobi, Luanda oder Lagos auch für Gutverdiener wegen des knappen Angebots unerschwinglich geworden. Und der Betrieb von Geschäften wird zunehmend schwierig. Doch wer mit Mendenhall über das riesige Areal fährt, der bemerkt unweigerlich die Diskrepanz zwischen seinen schicken den Computeranimationen der Retortenstadt und der Realität. Einige Industriegebiete haben den Betrieb aufgenommen, auch die Schulen und erste Wohnviertel. Aber große Bereiche erinnern noch an die Vorgeschichte des gigantischen Grundstücks. Jahrzehntelang wurde hier Kaffee angebaut.
Das Projekt liegt fünf Jahre hinter dem Zeitplan zurück. Mendenhall erzählt von den teils absurden Situationen als die Planungen aufgenommen wurden. Plötzlich, es war mitten in der Vorstandssitzung, kamen kenianische Polizisten auf das Grundstück der Rendeavour-Zentrale in Kenia. Die Manager diskutierten gerade die nächste Planungsphase für „Tatu-City“. Was denn der Grund für den Besuch sei, wollten sie wissen. Die Gesetzeshüter schwiegen, machten aber auch keine Anstalten, das Gelände zu verlassen. Erst als die Firma beim verblüfften Polizeichef anrief, der den unautorisierten Einsatz umgehend beendete, war der Spuk vorbei.
„Da haben unsere ehemaligen Geschäftspartner ihre persönlichen Beziehungen spielen lassen“, sagt Mendenhall. Heute kann er über den einige Jahre zurückliegenden Vorfall lächeln. Drei kenianische Geschäftspartner, darunter ein ehemaliger Gouverneur der Zentralbank, hatten ihre Investitionszusagen nicht gehalten und wurden deshalb von einem Londoner Gericht wegen falscher Zahlungsangaben verurteilt. Sie wollten den vertraglich in diesem Fall vorgesehenen Verlust ihrer Anteile an dem Projekt mit allen Mitteln verhindern – sie schickten befreundete Polizisten vorbei. Letztlich ohne Erfolg, aber ein weiterer Stolperstein bei der „Schaffung einer Infrastruktur, die den Sehnsüchten von Afrikas aufkeimender Mittelschicht entspricht“, wie es „Rendeavour“ auf seiner Homepage blumig verspricht.
Projekte wie „Tatu City“ seien nur „eine der Antworten“ auf die Herausforderungen der rasanten Urbanisierung, sagt Manager Mendenhall, „die größere steht den Regierungen bevor. Der nötige Ausbau der Infrastruktur in den existierenden Städten wird Jahrzehnte beanspruchen.“ Seine Firma glaubt fest an das große Geschäft mit der Mittelschicht. Neben Tatu-City in Kenia, dem größten Projekt, verantworten die Investoren derzeit ähnliche Retortenstädte in Ghana, Nigeria, Sambia und dem Kongo. „Es ist definitiv ein Rennen gegen die Zeit“, sagt Mendenhall angesichts der zunehmend verstopften Metropolen.
Die Verzögerung kostet ein Vermögen. Dabei erfüllte das Projekt bei Baubeginn alle Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf. Klare Eigentumsverhältnisse zum Beispiel – plötzliche Landansprüche von traditionellen Anführern, die bei Großprojekten in Afrika immer wieder eine Rolle spielen, waren nach dem Kauf des Areals für 21 Millionen Dollar wegen der Vergangenheit des Areals als Kaffeefarm nicht zu erwarten. Doch zunächst bremsten die Streitereien mit den Geschäftspartnern. Immer wieder gab es Gerichtstermine. Einmal kam der Anwalt der kenianischen Geschäftsleute und sagte: „Gebt uns ein paar Grundstücke und wir ziehen die Klage zurück.“ Die Firma lehnte ab und nahm die Verzögerung in Kauf. Man wollte nicht erpressbar sein und sorgte sich auch davor, dass diese Taktik in anderen Ländern kopiert werden könnte.
Dann kam ein neuer Gouverneur im Bezirk Kiambu County, in der sich Tatu City befindet, an die Macht. Er forderte unvermittelt von allen Immobilien der Gegend zehn Prozent der Fläche für öffentlichen Nutzen. Als sich die Firma weigerte, verweigerte er die nötige Unterzeichnung von Baudokumenten. Schließlich griff die Regierung ein und wandelte Tatu City im Jahr 2018 in eine „Sonderwirtschaftszone“ um, die derzeit in vielen afrikanischen Ländern auf Anraten der Weltbank eingerichtet werden. Nahezu alle Genehmigungen laufen nun über die vehement um Investoren ringende nationale Regierung, in Kenia zahlen dort ansässige Unternehmen anstelle von 30 Prozent nur zehn Prozent Unternehmenssteuer während der ersten zehn Jahre. Mit dem staatlichen Energiekonzern ist bereits vertraglich die Energieversorgung garantiert, zudem sollen Solar-Installationen auf den Dächern der Fabriken das Projekt möglichst autark machen.
An Kritikern mangelt es nicht. So hält Afred Omenya, Städteplaner des kenianischen Forschungsinstituts „Eco-Build Africa“, derartige Regularien für eine „unfaire“ Bevorteilung ausländischer Investoren. Zudem liege der Fokus auf Unterkünften für die Mittel- und Oberschicht. „Das wird unweigerlich zu einer weiteren Exklusion von Bevölkerungsgruppen, Segregation und Konflikten führen“, sagte Omenya der Nachrichtenagentur „Reuters“.
Investor Mendenhall hält dagegen, Omenya habe Tatu City nie besucht oder kontaktiert. „Wir sind keine Insel, Tatu City sollte immer ein Mix für Menschen mit unterschiedlichen Einkommensschichten sein. Man kann 150.000 Menschen nicht vom Rest des Landes abgrenzen“, sagt er, „auch Menschen von außerhalb können sich frei bewegen.“ Es gebe natürlich Wohnkomplexe mit Zugangskontrolle, räumt er ein. Es würden aber auch 2500 Wohnungen für „Menschen mit niedrigem bis mittlerem Einkommen“ entstehen, 10.000 weitere sind geplant. „Das ist wahrscheinlich das größte private Bauprojekt für den Niedriglohnsektor in Kenia“, sagt Mendenhall.
Doch die preiswerteste Option für eine Eigentumswohnung kostet 28.000 Dollar, die Zielgruppe besteht auch hier eher aus Kenianern der unteren Mittelschicht. „Eine weitere Reduzierung des Preises setzt eine Zusammenarbeit mit der Regierung voraus. Wir bemühen uns darum. Ein Investor kann das nicht alleine leisten.“ Er verweist auf die positiven Aspekte, die Entlastung Nairobis und das Potenzial zur Schaffung Tausender neuer Jobs. Und für die 200 Arbeiter, die nach dem Kauf der Kaffeeplantagen ihren Job verloren, habe man eine Berufsschule eingerichtet, wo sie etwa zu Elektrikern oder Maurern umgeschult werden. 83 Prozent finden nach Rendeavour-Angaben danach einen Job. Gleichzeitig habe Tatu City innerhalb von vier Jahren 1000 neue Jobs geschaffen.
Noch immer ist das Projekt in der Investitionsphase. Mendenhall glaubt fest an den Erfolg des Projekts. „Man braucht in diesem Geschäft einen langen Atem“, sagt er, „aber wir haben die schwierigste Phase hinter uns.