Christian Putsch

Die DDR-Kinder aus Namibia

Christian Putsch
Die DDR-Kinder aus Namibia

Vor 40 Jahren brachte die DDR 430 namibische Kinder aus einem Flüchtlingslager nach Mecklenburg – nach dem Fall der Mauer mussten sie inmitten der Pubertät nach Namibia zurückkehren. Und suchen bis heute nach ihrer Identität

Es hatte geschneit, als die Maschine am Flughafen Berlin-Schönefeld landete. Die 80 Kleinkinder aus Namibia, die kurz vor dem Weihnachtsfest 1979 aus der Maschine stiegen, hatten noch nie Schnee gesehen. Einige hielten ihn für Zucker, ein Mädchen glaubte, da habe jemand Tausende weiße Plastikgabeln verstreut. 

Erst am Vormittag hatten sie das von südafrikanischen Truppen bombardierte Flüchtlingslager Kassinga in Angola verlassen, darunter Kinder von Anführern der namibischen Befreiungsorganisation Swapo – so mancher Bauch vor Hunger gewölbt. Nun waren sie auf dem Weg in das Schloss Bellin bei Güstrow in Mecklenburg, das vom „Solidaritätskomitee der DDR“ ausgewählt worden war, um die künftige Elite des möglichst bald vom Klassenfeind befreiten Namibias auszubilden. 430 Kinder schickte die Swapo im Laufe der 1980er Jahre, sie erlebten die letzten Jahre der DDR mit. Und bilden ein Stück weitgehend vergessene deutsch-deutscher Geschichte.

Fast genau 40 Jahre später sitzen drei der „DDR-Kinder“ in einem portugiesischen Restaurant von Namibias Hauptstadt Windhoek. Es wird auf Deutsch geschäkert, wie immer, wenn sie sich treffen oder in der „DDR-Whatsapp-Gruppe“ chatten. Konserviertes Deutsch der 1980er Jahre. Der Automechaniker Marvin Helao, 45, sagt, man habe ja „ganz schön Schwein gehabt“, wenn man sich nach Streichen nicht hat erwischen lassen. Der Fliesenleger Patrick Ya Otto, 44, erzählt vom „Remmidemmi“, den man damals veranstaltet hat. Und die Radiomoderatorin Nangula Hishoono, 44, findet, die jüngsten Korruptionsskandale in Namibia seien „doch die Höhe“. 

Automechaniker Marvin Helao

Automechaniker Marvin Helao

Drei Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens nach Identität gesucht haben. Elf Jahre lang, den Großteil ihrer Kindheit, hatten sie in der DDR verbracht. Ohne Eltern, bis auf Ya Otto, dessen Mutter für eine Ausbildung als Erzieherin mitreisen durfte. Vielleicht handelt es sich um das prägnanteste Beispiel für die Widersprüchlichkeit der DDR, die sich einerseits von Ausländern abschottete, andererseits zu aktiver Solidarität mit afrikanischen Ländern aufrief und Hunderte Kinder aufnahm. Sie sollten „bereits im frühen Stadium ihrer Entwicklung mit den sozialen Errungenschaften einer sozialistischen Gesellschaft vertraut werden“, hieß es im Projektantrag.

Es sind überwiegend positive Erinnerungen, die an dem Tisch geteilt werden. An die Apfel- und Kirschernten, Ausflüge in den Dresdner Zwinger oder Schloss Sanssouci. Der Unterricht war streng, die Erzieherinnen seien aber freundlich gewesen, erzählt Helao. Lediglich bei der ein oder anderen namibischen Lehrkraft sei auch schon einmal der Gürtel für Erziehungsmaßnahmen eingesetzt worden. Von einheimischen Kindern blieben sie mit Ausnahme der Ferienlager überwiegend getrennt, nicht zuletzt, weil ein dauerhafter Verbleib in der DDR nie vorgesehen war. 

Staatsbürgerkunde war ab der fünften Klasse auch für sie Pflicht. Doch während in den regulären Schulen Russisch als Fremdsprache gelehrt wurde, gab es für die namibischen Kinder dreimal pro Woche Englisch-Unterricht, zudem an Mittwochnachmittagen namibische Heimatkunde. Und die Jungs übten schon im Kindesalter an den Waffen und absolvierten lange Märsche. Dass die Rolle der Frauen selbst bei der Revolution eher im Haushalt geplant war, wurde auch dort deutlich – sie bekamen Nähunterricht.

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Das Schloss in Bellin blieb den jüngeren Kindern vorbehalten, die weiterhin aus Namibia eingeflogen wurden. Helao, Ya Otto und Hishoono wurden also nach ein paar Jahren in eine Schule nach Staßfurt in der Nähe von Magdeburg umgesiedelt, wo auch Kinder aus Mosambik untergebracht waren. Es entstanden Freundschaften, sie wurden von den namibischen Schülern nur „die Mossis“ genannt. 

Die DDR lud neben den Kindern auch weit über 20.000 Vertragsarbeiter aus Mosambik und Angola ein. In Mosambiks Hauptstadt Maputo demonstrieren bis heute jeden Mittwoch einige dieser ehemaligen Arbeiter vor dem Arbeitsministerium. Ein Teil der Löhne, die von der DDR auf Staatskonten in Mosambik überwiesen worden waren, seien nie ausgezahlt worden, sagen sie.

Mit dem Fall der Mauer im November 1989 und der fast zeitgleichen Unabhängigkeit Namibias bahnte sich die zweite Entwurzelung der Namibia-Kinder an. Nun kam es auch hin und wieder zu unschönen Bemerkungen von einigen Jugendlichen des Ortes: „Bald geht es zurück für Euch“, riefen sie ihnen zu.

So kam es. „Ein paar hohe Tiere von der Swapo besuchten uns und sagten: Gute Nachrichten, wir fliegen nach Hause“, erinnert sich Hishoono, „wir hatten aber trotz des Heimatunterrichts vom Prinzip ein klischeehaftes Bild von Namibia. Das waren Existenzängste.“

Innerhalb weniger Tage wurde im August 1990 ihre Rückreise organisiert, noch vor dem Schulabschluss. Zum einen lehnte die DDR-Übergangsregierung unter Lothar de Maizière die Weiterfinanzierung des Heimes ab, heißt es in einem Bericht der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Gleichzeitig kehrten viele Swapo-Kämpfer aus dem Exil nach Namibia zurück und forderten die Rückkehr der Kinder. Es ist bis heute nicht ganz klar, was von beidem den Ausschlag gab.

Besonders für die Mädchen war die Eingewöhnung hart. Das extrem konservative Familienbild in Namibia waren sie nicht gewohnt, einige berichten, sie durften ihrem Vater nicht einmal in die Augen schauen, geschweige denn Widerrede geben. Die örtliche Sprache, Oshivambo, beherrschten die Rückkehrer nur rudimentär. „Wir galten ein wenig als Kokosnüsse“, sagt Nangula Hishoono, „außen schwarz, innen weiß.“

Ihre Sicht auf die Regierung würde so mancher namibische Politiker jedenfalls als eurozentrisch abtun. Helao spricht offen von der Habgier der Politik, aber auch der gesellschaftlich tief verwurzelten Korruption. Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass zwei Minister am irregulären Verkauf von Fischfangrechten an die isländische Firma Samherji beteiligt waren. Beide mussten zurücktreten und wurden verhaftet – erstmals gingen Hunderte Menschen in Namibia gegen Korruption auf die Straßen. Helao versteht nicht, warum erst jetzt.

Auch Hishoono ist desillusioniert. „Wir haben so viele Bodenschätze und eine kleine Bevölkerung – eigentlich müssten wir wie in Dubai leben.“ Stattdessen lebt in Namibia noch immer jeder fünfte in Armut. In die Politik zieht es sie nicht, klare Meinungen aber hat sie. Zur Bildung zum Beispiel: Nach der Unabhängigkeit habe man die Unterrichtssprache von Afrikaans auf Englisch geändert, ohne zu bedenken, dass kaum ein Lehrer diese Sprache ordentlich beherrschte. „Das war ein großer Fehler“, sagt Hishoono, „wir müssten auch viel mehr in diesen Bereich investieren.“

Irgendwie haben sie alle drei ihren Weg gefunden, auch wenn es nicht immer einfach war. Helao und Ya Otto kehrten nach der Schule für einige Jahre nach Deutschland zurück, absolvierten eine Ausbildung, bevor sie sich in Windhoek selbständig machten. „Der ein oder andere von uns DDR-Kindern hat das alles nicht gut verkraftet, einige sind auch vom Weg abgekommen.“ Zur politischen Elite gehört, anders als einst geplant niemand unter den 430, dafür aber erfolgreiche Anwälte, Geschäftsleute und eine Geschäftsführerin einer anerkannten Bürgerrechtsorganisation. Doch es gibt auch vier oder fünf, die in einem Park in Windhoek leben.

Radiomoderatorin Nangula Hishoono

Radiomoderatorin Nangula Hishoono

Als was sie sich fühlen? Deutsch? Namibisch? Einen Moment überlegt die kleine Gruppe am Mittagstisch. „Ich bin besonders bei der Arbeit sehr penibel, aber fühle mich nicht Deutsch“, sagt Ya Otto, der seinem Sohn trotzdem ein Deutschland-Trikot geschenkt hat. „Na ja, irgendwie ja doch“, entgegnet Hishoono, „vielleicht Namibisch mit sehr vielen deutschen Tugenden.“ 

Helao sagt, er sei „eher Deutsch“. Belege dafür findet man in seinem Haus. Er hört ausschließlich deutschsprachiges Radio, hat in seinem Wohnzimmer einen bayerischen Bierkrug im Regal und die obligatorische Meinung zur Bundesliga und seinem Lieblingsverein: „Bayern muss Heynckes zurückholen.“