Christian Putsch

Wie unsere Altkleider Afrika bremsen

Christian Putsch
Wie unsere Altkleider Afrika bremsen

In Deutschland werden jährlich eine Million Tonnen Bekleidung von der Altkleidersammlung abgeholt – das meiste landet in Afrika. In Kenia, einem der Hauptabsatzländer, fordern immer mehr Designer, den Import zu verbieten. Denn der Handel mit Altkleidern verhindert den Aufbau von Fabriken auf dem Kontinent. Ein Besuch

Nairobi – Ihr Aufstieg zur Königin des Gikomba-Marktes dauerte 15 Jahre. Und er war hart, dieser mühsame Weg vom Leben als Straßenverkäuferin zur Großhändlerin in Kenias Hauptstadt Nairobi. Lucy John’s Imperium besteht aus einer kleinen Lagerhalle, in der sich die Reste der westlichen Konsumgesellschaft bis zur Decke stapeln. Zehntausende Kleidungsstücke, in England ausrangiert, in Pakistan und Indien neu verpackt und nun auf ihrer letzten Station in Gikomba, größten Markt für Altkleider in Ostafrika.

John, 50, ist schick gekleidet. Schwarze Bluse mit Designermuster, darüber eine elegante Strickjacke. Sie trage ausschließlich Altkleider, sagt sie, schon um ihren Kunden die Qualität ihrer Ware am eigenen Leib zu beweisen. Niemand in Kenia kennt dieses Geschäft besser. In Mombasa an der Küste funktioniert luftigere und preiswerte Kleidung besser, im nicht ganz so heißen Nairobi ist der Anspruch höher – in vier Qualitätskategorien bestellt sie ihre Ware. „Ich mache nur zehn Prozent Gewinn“, sagt sie, „da muss man genau kalkulieren.“

In Deutschland und anderen Industrienationen ist wohl nur wenigen bewusst, dass 70 Prozent ihrer Altkleider in Afrika landen. Die Menge ist schlicht so groß – hierzulande rund eine Million Tonnen im Jahr –, dass Hilfsorganisationen den Großteil der gespendeten Klamotten an Sortierbetriebe weiterverkaufen. Eine runde Sache, möchte man meinen. In Ostafrika werden die Waren zu erschwinglichen Preisen angeboten, ein T-Shirt auf dem Gikomba-Markt kostet umgerechnet selten mehr als einen Euro. Und das Geschäft, so hat die US-Regierung vorgerechnet, sorgt für 355.000 Arbeitsplätze in Ostafrika. So wie der von Lucy John und Hunderten Händlern und Fahrern des Gikomba-Marktes.

Doch gegen das Geschäft gibt es zunehmend Widerstand. In einem zweigeschossigen Haus am Rande von Kibera, Kenias größtem Slum. Dort hat sich der junge Designer David Avido, 25, mit seinen Kreationen für die Mittelschicht einen Namen gemacht. Ein Hemd kostet in seinem Atelier umgerechnet 40 Euro – es gibt dafür Käufer, aber ihre Zahl ist überschaubar.

Elf Arbeitsplätze hat der Unternehmer geschaffen. Aus dem Nichts, nach überwundener Drogensucht und nahezu ohne Startkapital. Eine enorme Leistung, in zehn Jahren will er aber 5000 Menschen beschäftigen. Das geht nur, wenn er Waren für die Massen herstellt. Das sei in Kenia durchaus preisgünstig möglich, glaubt Avido, allerdings nicht so billig wie die Altkleider. „Wenn die Regierung will, dass in Kenia wieder mehr eigene Kleidung hergestellt werden, dann müssen diese Importe aufhören“, sagt er, „und sie muss uns Existenzgründer fördern.“

So wie er denken viele Designer in Ostafrika. Und auch so mancher Politiker. Schließlich garantierte in den 1980er Jahren die Herstellung von Kleidung allein in Kenia 500.000 Menschen Arbeit. Der von Weltbank und Internationalem Währungsfonds durchgesetzte Abbau von Importzöllen ermöglichte dann die Einfuhr von Gebrauchtkleidung im großen Stil. Sie sparte den Kenianern zwar Kosten. Doch inzwischen sind nicht einmal mehr 50.000 Kenianer mit der Herstellung beschäftigt, die Wertschöpfungskette ist deutlich kürzer.

Zudem ist die arbeitsintensive Textilbranche wichtig für die frühe Industrialisierung eines Landes, der dann komplexere und teurere Produkte folgen. Kenias Wirtschaft hat einen vergleichsweise hohen Grad an Entwicklung und Diversifizierung. In strukturschwächeren Ländern ist dieser Umstand allerdings von beachtlicher Bedeutung.

Doch als Kenia mit einer ganzen Reihe anderer ostafrikanischer Länder vor einigen Jahren den Import von Altkleidern mit einem sprunghaften Anstieg der Importzölle de facto verbieten wollte, gab es gewaltigen Widerstand. Von den USA. Dort argumentierten Lobbyisten der Milliardenbranche, dass ein derartiges Verbot 40.000 amerikanische Arbeitsplätze gefährden würde. Prompt drohten die USA mit der Kündigung des Freihandelsabkommens „AGOA“, das afrikanischen Ländern für Tausende Produkte freien Zugang zum US-Markt garantiert.

Auch die Verkäufer von Altkleidern in Kenia gingen gegen die Pläne auf die Straße. Lucy John, die Königin des Gikomba-Marktes, erinnert sich gut an diese wilden Wochen im Jahr 2017. So mancher Kunde habe sich damals den Protesten angeschlossen. „Ohne die Altkleider hätte die Mehrheit der Menschen nicht genug zum Anziehen“, sagt sie, „hier auf dem Gikomba-Markt kostet ein T-Shirt einen Dollar. Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn sie fünf Dollar für ein neues zahlen müssen?“ Selbst für Gebrauchtkleidung hätten viele kaum mehr genug. Während der Pandemie sei ihr Profit von 20 auf zehn Prozent abgesackt. Die Kaufkraft in Kenia ist gesunken.

Am Ende machten alle Länder einen Rückzug – bis auf Ruanda. Mit Erfolg. Zwar sind die Textil-Exporte in die USA erwartungsgemäß eingebrochen. Doch der Umsatz der Branche hat sich dennoch beinahe verdoppelt. Wegen der erhöhten Binnennachfrage, aber auch der Erschließung neuer Absatzmärkte, unter anderem Deutschland.

Designer Avido ist überzeugt, dass Kenia diesem Beispiel folgen muss. Er hofft auf mehr Selbstvertrauen, mehr Mut der Politiker, die zu den hochbezahltesten des Kontinents gehören. Es sei an der Zeit für Afrika, über den Tellerrand zu schauen, sagt der junge Mann. „Jemand, der sein Leben lang nur Nudeln gegessen hat, der muss sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, Hühnercurry zu essen.“ Dann werde man schnell feststellen, dass es nahrhafter ist.